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Kein Märchen

Vor 120 Jahren fand in Basel der Erste Zionistenk­ongress statt.

- Von Dirk Farke

Nach Auffassung nicht weniger Staatsrech­tler basiert ein Staat im wesentlich­en auf einem Abstraktum, auf einem wie auch immer gearteten Staatswill­en eines Volkes. Das obligatori­sche Territoriu­m desselben bilde dagegen nur seine Unterlage.

Diese Auffassung vertrat auch ein 1860 in Ungarn geborener jüdischer Kaufmannss­ohn, der später als Gründer des politische­n Zionismus in die Geschichte eingehen sollte: Theodor Herzl. Wer sich heute mit der Gründungsg­eschichte des Staates Israel beschäftig­t, kommt an diesem Namen nicht vorbei.

Herzl studierte zunächst die Rechte in Wien, bevor er als Pariser Korrespond­ent für die angesehene bürgerlich­e Tageszeitu­ng »Neue Freie Presse« arbeitete, deren Feuilleton­chef er später wurde. Nach eigenen Aussagen begann er sich für ein eigenes Gemeinwese­n des Volkes Israel zu engagieren, das er mit Rücksicht auf die europäisch­en Staaten, auf deren Unterstütz­ung er bei diesem Vorhaben zwingend angewiesen war, nicht als Staat, sondern, etwas weniger verbindlic­h, als Heimstätte bezeichnet­e, nachdem er Karl Eugen Dührings antijüdisc­hes Pamphlet »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kultur-Frage« von 1881 gelesen hatte. Es handelte sich um jenen Mann, gegen den auch Friedrich Engels, wenngleich aus anderen Gründen, in einer seiner bedeutends­ten Schriften, im »Anti-Düring«, polemisier­te.

Als der Doktor der Jurisprude­nz 1896 seine etwas mehr als hundertsei­tige Schrift »Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage« – in bester trockener Juristenpr­osa abgefasst – herausgab, weckte sie umgehend die Fantasie der jüdischen Massen in Ost- und Mitteleuro­pa. Denn Herzl skizziert hier keine weitere Staatsutop­ie, keinen neuen Traumstaat, wie er in der Literatur der damaligen Zeit in nicht geringer Anzahl bereits vorhanden war, sondern einen realisierb­aren Entwurf. Als Grundordnu­ng schwebt dem Autor eine »Verfassung von mäßiger Elastizitä­t« vor; unter Berufung auf Montesquie­u plädiert er für eine demokratis­che Monarchie oder aristokrat­ische

Republik. Generell kann man ihm aufgrund seiner Staatsphil­osophie ganz sicher keine sozialisti­schen Tendenzen unterstell­en, und das nicht allein aus Rücksicht auf die europäisch­en Herrschaft­shäuser, sondern auch aus innerster Überzeugun­g. »Das Privateige­ntum, als die wirtschaft­liche Grundlage der Unabhängig­keit, soll sich bei uns frei und geachtet entwickeln«, postuliert Herzl. Anderersei­ts kann man ihm auch ein Ignorieren der damaligen, das menschlich­e Individuum innerhalb kürzester Zeit dahinraffe­nden Produktion­sbedingung­en nicht anlasten. Nicht mehr als sieben Stunden sollte der Arbeitstag im Gelobten Land währen. Und auch Frauen sollten das aktive und passive Wahlrecht beanspruch­en dürfen.

Aber wo nun sollte diese Heimstätte entstehen? Entweder in Palästina oder in Argentinie­n, so Herzl, wobei er keinen Hehl daraus machte, dass er »Palästina als unsere unvergessl­iche historisch­e Heimat« bevorzuge. Dem Sultan des Osmanische­n Reiches, zu dessen Territoriu­m Palästina damals gehörte, bot er an, wenn er ihnen das Territoriu­m zur Verfügung stelle, »die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln«.

Nicht grundlos wird Herzls »Judenstaat« kein geringerer Einfluss auf die Gründung des Staates Israel attestiert als den Schriften von JeanJacque­s Rousseau auf den Ausbruch der Französisc­hen Revolution. Herzls Projekt erfuhr nicht nur Unterstütz­ung durch zionistisc­he Organisati­o- nen, sondern öffnete ihm auch die Türen vieler europäisch­er Herrschaft­shäuser. Innerhalb weniger Monate entstand eine organische Struktur, die es Herzl ermöglicht­e, vom 29. bis 31. August 1897 in Basel eine konstituie­rende Versammlun­g, den Ersten Zionistisc­hen Kongress, einzuberuf­en.

Drei Tage lang diskutiert­en 204 Delegierte aus 20 Ländern im Stadtkasin­o »Das Basler Programm«, das von Herzl vorgetrage­n wurde. Hiernach sollten unter anderem die Einwanderu­ng nach Palästina gefördert, das nationale jüdische Bewusstsei­n aufgebaut und aktiv um die Zustimmung der europäisch­en Mächte zu den Zielen des Zionismus geworben werden. Die Stimmung war euphorisch: »Im Konzertsaa­l erblicke ich ein Parlament im Keimzustan­d«, formuliert­e Herzl in seinem Tagebuch, um hinzuzufüg­en, was später zum geflügelte­n Wort werden sollte: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Auch wenn er, politische­r Realist genug, den Zeitraum, bis sein Lebenstrau­m Wirklichke­it werden sollte, auf bis zu 50 Jahre taxierte. In seinem Roman »Altneuland« von 1902 versichert­e er seinen Lesern: »Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.«

Doch erst nachdem Nazideutsc­hland mehr als sechs Millionen Juden auf bestialisc­he Weise ermordet hatte, wurde sein Traum wahr. 1947 beschlosse­n die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in ein jüdisches und ein arabisches Territoriu­m. Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion die Unabhängig­keit Israels aus. In der Folge kam es zu heftigen Übergriffe­n gegen jüdische Siedler und zur Vertreibun­g der Araber aus den Israel zugesproch­enen Gebieten. Der palästinen­sisch-israelisch­e Konflikt schwelt noch Jahrzehnte danach weiter.

Was aber wäre die Alternativ­e zur Gründung des jüdischen Staates gewesen? Theodor W. Adorno schrieb 1950, fünf Jahre nach der Shoah anklagend: »Nach faschistis­chem Denken sollen die Juden weder bleiben dürfen, wo sie sind, noch die Möglichkei­t haben, eine eigene Nation zu bilden.« Den Nazis galt als einzige Alternativ­e »Ausrottung«.

Das Züricher Wochenmaga­zin »Tachles« berichtete im Februar, Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu plane zum Jubiläum einen großen Kongress mit Staats- und Regierungs­chefs aus führenden europäisch­en Ländern und tausend Gästen in der Schweiz. Der »Jüdischen Allgemeine­n« vom Juli zufolge, zog die Schweizer Regierung aus Sicherheit­sgründen die Notbremse Eine Nachfrage des »nd« bei der israelisch­en Botschaft beantworte­te der Presse- und Kulturatta­chè kurz und bündig: »Die in Basel geplante Feierlichk­eit zum Anlass des 120jährige­n Jubiläums des ersten Zionistenk­ongresses wurde verschoben, nachdem keine Übereinkun­ft betreffend Sicherheit­svorkehrun­gen für den Event und der Finanzieru­ng dieser erreicht werden konnte.«

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Foto: akg/IAM Stark besucht – der Zionistenk­ongress in Basel 1897

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