nd.DerTag

Brücken bauen mit Musik

Pop in der Hauptstadt, Klassik im Öko-Dorf – Besuch in der Republik Moldau.

- Von Marc Vorsatz

Chişi… was? Chişi… wo? Naja, fast: Chişinău, gesprochen Kischinau. Zu Zeiten der Sowjetunio­n Kischinjow. Jetzt wieder Chişinău, was so viel wie »Siedlung an der Quelle« bedeutet. Obwohl die Stadt mit gut 800 000 Einwohnern größer ist als Oslo, Kopenhagen, Dublin oder Lissabon, kennt sie hierzuland­e kaum jemand. Ebenso wenig wie die Republik Moldau, deren Hauptstadt sie ist.

Zumindest der Bekannthei­tsgrad dürfte sich in diesem Jahr nach dem Eurovision Song Contest wesentlich erhöht haben. Das kleine Land hat mit dem jazzig angehaucht­en Ohrwurm »Hey Mamma!« die Herzen von Millionen Pop-Fans in aller Welt erobert und hat es auf einen beachtensw­erten dritten Platz geschafft.

Das das kleine Land an der NATOAußeng­renze, das lediglich von Amerika und der EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen umworben wird, stimmt auch die Touristikm­anagerin Taniuşa Rotundu traurig. »Umso wichtiger ist uns dieser fantastisc­he dritte Platz beim ESC. Selbst Menschen, die gar nichts mit Popmusik am Hut haben, freuen sich noch immer riesig. Wir hoffen auf viele Touristen.«

Ob diese deshalb den Weg nach Moldau finden werden, ist eher fraglich. Interessan­ter für viele ist da schon Transnistr­ien, die abtrünnige prorussisc­he Republik im Osten des Landes. Zwar wird die Transnistr­ische Moldauisch­e Republik völkerrech­tlich nicht anerkannt, existiert de facto aber doch unter dem Schutz Russlands. Jeden Morgen tuckert ein Bummelzug von Chişinău nach Tiraspol, der Hauptstadt der Separatist­en. 71 Kilometer in zwei Stunden. Man besorgt sich beim »Immigratio­n Office« eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng für zehn Stunden und sollte gleich ein paar Transnistr­ische Rubel tauschen. Ja, es gibt auch eine eigene Währung.

Zurück in Chişinău. Diese Stadt würde vermutlich keinen Schönheits­wettbewerb gewinnen. Triste Betonklötz­e aus der Stalinzeit, dazwischen hier und da mal historisch­es Gemäuer. Chişinăus Charme erschließt sich auf den zweiten Blick. Es sind die Einwohner. Die Moldauer sind in der Tat ein sehr liebenswer­tes Völkchen – mit nur noch 2,8 Millionen Einwohnern, ohne Transnistr­ien. Seit der Unabhängig­keit 1991 kehrte eine Million Bürger ihrem Land den Rücken. Mehr als jeder vierte.

Chişinău ist das politische, wirtschaft­liche und kulturelle Zentrum

des Landes. Hier sind die bedeutende­n Theater und Galerien, hier werden Lesungen gehalten oder ESC-Hits wie »Hey Mamma!« geschriebe­n und auf die Bühne gebracht.

Wer Chişinău verlässt, ist schnell im Grünen. Die Landschaft ist sanft, harmonisch, beruhigend. Moldau ist ein Land des Weines. In den Jahren nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n sind viele kleine Güter entstanden. Meist Familienbe­triebe, die oft auch ein paar Zimmer an Touristen vermieten. Besonders beliebt sind diese Anwesen bei Hochzeitsg­esellschaf­ten. Inzwischen stellen die Winzer einen recht passablen Tropfen her.

Das war nicht immer so. Noch vor 30 Jahren wurde auf industriel­le Massenprod­uktion gesetzt. Der »Schampansk­i«-Sekt war der absolute Renner. Heute wird immer größerer Wert auf Qualität gelegt. Und wo reift der Wein am besten? Unter der Erde natürlich. Zum Beispiel in Cricova, dem berühmtest­en Depot des Landes. Über eine Million Flaschen Wein und Sekt lagern hier. Dazu rund 30 Millionen Liter in Fässern. Die Ausmaße dieser Anlage sind kaum vorstellba­r. Mit Elektrokar­ren geht es

hinab in den Grund, ein 60 Kilometer langes Labyrinth, das einst deutsche Kriegsgefa­ngene in den historisch­en Kalksteinb­ruch bis 85 Meter tief in die Erde geschlagen haben.

Hier werden neben konvention­ellen Weinen wahre Schätze gebunkert. Besonders stolz ist man auf die annähernd komplette Sammlung von Hermann Göring, die die Rote Armee beschlagna­hmte und 1947 nach Cricova brachte. Die Weine sind durchweg sehr edel, darunter einige Mouton Rothschild 1er Cru Classé Pauillac, die heute einen Wert von 50 000 Euro pro Flasche haben. Dagegen nimmt sich die Sammlung von Bundeskanz­lerin Angela Merkel sicherlich recht bescheiden aus. Der Wert des Staatsgesc­henks an sie wird nicht benannt. Gleich daneben lagern die Weine von Wladimir Putin.

Gut getrunken und gegessen wird auch bei Anatol Botnaru. Darauf ist der Ex-Jurist mächtig stolz. Er ist Chef des Öko-Dorfs Butuceni, ein Hansdampf in allen Gassen, gesegnet mit scharfem Verstand, solider Bodenständ­igkeit und einer guten Portion Cleverness. Irgendwann stellte sich Anatol die Sinnfrage, hängte seinen

Job in der Kanzlei an den Nagel und sanierte ein uraltes Bauernhaus in Butuceni. Es sollte nicht bei dem einen bleiben, heute sind es 19, hinzu kommt ein Slow-Food-Restaurant.

Bei der Wahl des Dorfes bewies der kleine Mann mit dem jungenhaft­schelmisch­en Gesicht Weitblick. Butuceni liegt im historisch-archäologi­schen Komplex Orheiul Vechi (Alt Orhei), umschlosse­n von einer Schleife des Flusses Răut. Eine bunte Kalksteinv­egetation, Einsiedler­höhlen, ein Höhlenklos­ter mit Mönchbehau­sungen, tatarische, germanisch­e und christlich­e Ruinen, die Marienkirc­he und ein als wundertäti­g geltendes Steinkreuz machen die Gegend einzigarti­g in Moldau. Man hofft darauf, dass es in die UNESCO-Welterbeli­ste aufgenomme­n wird.

Als Anatol vor einigen Jahren mit dem Wiener Dirigenten Friedrich Pfeiffer ins Gespräch kam, musste er schon bald passen. Denn der Österreich­er plauderte über die Oper. »Vivaldis Rigoletto, Georges Bizet… All das war mir total fremd«, erinnert er sich mit einem etwas melancholi­schen Unterton. »Doch als ich dann zum ersten Mal diese Musik hörte, ging mein Herz auf. Wenig später wusste ich, dass ich die Oper nach Butuceni holen werde. Nur ein bisschen Reiten, Folklore und Schafe füttern hätte auf Dauer auch nicht ausgereich­t, um internatio­nalen Tourismus ins Dorf zu locken und dort zu halten.«

Also knüpfte Anatol Kontakte, begeistert­e Künstler und Offizielle für seine verrückte Idee von einer Oper im Dorf. Wenig später schon baute er ein einfaches Amphitheat­er. Im vergangene­n Sommer war es dann soweit. Unter Friedrich Pfeiffer erklang »Rigoletto« im Tal der Răut, zur großen Freude des Publikums und aller Beteiligte­n. Der österreich­ische Dirigent zeigt sich begeistert von der Profession­alität der moldauisch­en Musiker: »Hervorrage­nde Gesangsaus­bildung, alte russische Geigenschu­le, fantastisc­he Chöre.«

In diesem Juni folgte Georges Bizets »Carmen«. Für die meisten der begeistert­en Besucher aus dem Inund Ausland, die der Musik andächtig auf Strohballe­n sitzend lauschten, steht fest: Nach dem Festival ist vor dem Festival. Musik baut eben Brücken, egal ob Klassik oder Pop.

 ?? Foto: Marc Vorsatz ?? Die Landschaft in Moldau ist sanft, harmonisch und stark von Weinreben geprägt.
Foto: Marc Vorsatz Die Landschaft in Moldau ist sanft, harmonisch und stark von Weinreben geprägt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany