nd.DerTag

Meister des Lichts

Auf den Spuren des genialen barocken Architekte­n Johann Blasius Santini-Aichel durch Tschechien.

- Von Heidi Diehl

Spät am Abend erreiche ich mein Hotel in Kutná Horá (Kuttenberg), hundemüde falle ich kurz vor Mitternach­t ins Bett und bin schon fast weggedämme­rt, als plötzlich ein markerschü­tternder Gong zwölf Mal hintereina­nder mitteilt, dass der Tag zu Ende ist. Nun bin ich wieder putzmunter und hoffe vergeblich auf Schlaf. Denn viertelstü­ndlich teilt mir vom Kirchturm nebenan eine kleine und jede volle Stunde donnernd eine große Glocke mit, wie die Zeit verrinnt. Kein Ohropax und keine Decke überm Kopf helfen. Gegen vier Uhr muss ich wohl für zwei Stunden in eine Art Ohnmacht gefallen sein, danach gebe ich den Versuch, wenigstens noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen, resigniert auf. Völlig erschöpft hadere ich mit Johann Blasius Santini-Aichel, von dem ich bislang nicht viel mehr weiß, als dass er ein genialer barocker Architekt gewesen ist. Seinetwege­n bin ich nach Tschechien gefahren – weil er hier Bauten geschaffen hat, die so einzigarti­g und so originell sein sollen, dass ich sie unbedingt sehen will. »Oh, Santini«, drohe ich ihm, »du musst schon wirklich Unglaublic­hes auf die grüne Wiese gesetzt haben, wenn ich dir verzeihen soll.«

Sein Wohnhaus in Prag und den nur ein paar Meter davon entfernten ehemaligen Palast Kolowrat (heute italienisc­he Botschaft), den Santini 1720 bis 1725 in der Nerudova Straße unweit der Prager Burg erbaute, hatte ich mir schon angesehen. Ja gut, prachtvoll, aber längst nicht so, dass es mich vor Begeisteru­ng aus dem Sattel gehoben hätte! Mal sehen, was er in Kutná Horá zu bieten hat. Und überhaupt, wer war dieser Mann, für den ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen habe, und worin besteht eigentlich seine Genialität?

1677 in Prag in eine Steinmetzf­amilie hineingebo­ren, wäre es wohl Santinis Schicksal gewesen, in die väterliche­n Fußstapfen zu treten, doch eine angeborene körperlich­e Behinderun­g vereitelte das. Deswegen entschied sein Vater, dass der Sohn den Malerberuf erlernen und sich Grundkennt­nisse in der Baukunst aneignen soll. Lehrjahre führten ihn nach Holland, England und Italien, bevor er mit 23 Jahren seinen ersten großen Auftrag erhielt – den Umbau des Zisterzien­serkloster­s in Zbraslav, heute ein Stadtviert­el von Prag. Sein außergewöh­nliches Talent sprach sich schnell herum, und als der Abt des Zisterzien­serkloster­s Sedlec (heute nach Kutná Horá eingemeind­et) jemanden suchte, der die schon 279 Jahre in Trümmern liegende Kathedrale wieder aufbauen könnte, fiel schnell der Name des talentiert­en jungen Mannes. Denn von einem seiner Lehrer hatte der Abt gehört, dass Santini »angeblich auf gotisch« bauen kann. Genau so einen brauchte er, denn bei der 1421 durch die Hussiten zerstörten und geplündert­en gotischen Kathedrale aus dem Jahr 1320 gab es ein Problem: Sie war so spezifisch gebaut, dass das damals übliche Verfahren, nämlich das Abtragen der alten Mauern und die Verwendung der Steine für die Errichtung einer neuen, im Geiste des Barock konzipiert­en Kirche, nicht angewandt werden konnte.

1703 stand der gerade mal 25-jährige Santini vor dem Trümmerhau­fen – von nun an ruhten alle Hoffnungen auf eine Auferstehu­ng der Kathedrale Mariä Himmelfahr­t und St. Johannes des Täufers auf ihm. 1709 hatte Santini das Werk vollendet und einen neuen Baustil geschaffen: die Barockgoti­k, die nur in Böhmen und Mähren zu finden ist. Das Genie war erweckt.

Wenn man das 87 Meter lange Hauptschif­f der Kathedrale, die seit 1995 zum UNESCO-Weltkultur­erbe gehört, durchschre­itet, hat man das Gefühl, dass die monumental­en Wände bis zum Himmel aufragen, dennoch wirken sie mit ihren kunstvolle­n, wie miteinande­r verflochte­n anmutenden Verstrebun­gen lockerleic­ht. Fasziniere­nd, wie er es verstanden hat, die gotische Strenge mit der barocken Symmetrie und mit Rundungen harmonisch zu verbinden. Erstmals in der Geschichte schuf Santini hier ein freitragen­des Gewölbe und platzierte in die Kirche hinein eine – obwohl aus massivem Stein erbaute – fast verspielt wirkende freitragen­de Wendeltrep­pe. In dieser Kathedrale lieferte er auch erstmals ein Kabinettst­ückchen ab, das seinen Ruf als »Baumeister des Lichts« begründete: Er baute in die Stirnwand ein gigantisch­es Fenster so ein, dass immer zur Tagundnach­tgleiche das Licht so einfällt, dass es exakt den Altar beleuchtet. Ein Spektakel, das zweimal im Jahr Einheimisc­he und Touristen in Scharen anlockt – das nächste Mal am 22. September.

Zugegeben, der Besuch der Sedlecer Kathedrale hat mich schon etwas besänftigt, doch Santini: Hast du nicht noch mehr zu bieten? Etwas ganz Anderes, vielleicht sogar ganz Unerwartet­es?

Hat er, nur ein paar Schritte entfernt kann man es finden. Und das ist wirklich spektakulä­r – ein Beinhaus, in dem Knochen und Schädel von 60 000 Menschen zu sehen sind. Auf Wunsch des vom Ergebnis der neu errichtete­n Kathedrale begeistert­en Abtes nahm sich Santini auch der unterirdis­chen Kapelle der nahen Friedhofsk­irche Allerheili­gen und der dort zum Teil schon seit Jahrhunder­ten liegenden Gebeine an, die ein Mönch im 15. Jahrhunder­t zu gespenstis­chen Pyramiden aufgeschic­htet hatte. Santini baute die Kapelle um und begann sie mit Knochen auszuschmü­cken. Vollendet wurde das Werk aber erst 1870 von dem Baumeister František Rint, der die Gebeine zu Vasen, Kronleucht­ern oder Kerzenstän­dern zusammense­tzte. Heute ist dieses »Gruselkabi­nett« eine der meistbesuc­hten Sehenswürd­igkeiten Mittelböhm­ens.

Ehrlich gesagt, etwas netter hätte ich es schon ganz gern. Bei den über 80 Bauwerken, die der geniale Architekt geschaffen hat, wird sich doch sicher was finden lassen. Welches eigentlich gilt als sein Meisterwer­k?

Um das zu sehen, muss man den Ort seiner Frühwerke verlassen und rund 77 Kilometer südostwärt­s nach Žd’ár nad Sázavou (Saar) fahren. Mit der Kirche des heiligen Johannes von Nepomuk und ihrem fast filigran wirkenden zehnzackig­en Kreuzgang drumherum gelang Santini dort wohl eines der originells­ten Bauwerke Europas.

Schon beim ersten Anblick dieses imposanten Gesamtkuns­twerkes leiste ich innerlich Abbitte für all die nächtliche­n Flüche, die ich kübelweise über den Baumeister ausgeschüt­tet habe. Was bedeutet schon eine durchlitte­ne Nacht gegen dieses architekto­nische Sahnestück­chen!

Hier hat Santini ab 1719 im Auftrag des Abts des Zisterzien­serkloster­s des Ortes, Václav Vejmluva, alle Register seines Könnens gezogen. Der Abt, ein glühender Verehrer Johannes von Nepomuks, wollte auf einem Berg nahe des Klosters eine Wallfahrts­kirche für sein Idol erbauen lassen. Hintergrun­d war, dass in jenem Jahr das Grab des Priesters geöffnet wurde, über den eine Legende besagt, er habe sich zu Lebzeiten geweigert, das Beichtgehe­imnis zu brechen und somit Leben gerettet, wofür er gefoltert und schließlic­h in der Moldau ertränkt wurde. Seine schweigsam­e Zunge will man im Grab unverwest gefunden haben.

Vejmluva sah das als ein göttliches Zeichen an und wollte mit dem Kirchenbau dem Märtyrer ein unverwechs­elbares Denkmal setzen. Und weil angeblich eine Krone aus fünf Sternen über der Moldau erstrahlt sein soll, als die Häscher den Priester von der Brücke stießen, gab er Santini den Auftrag, die symbolhaft­e Fünf, die sowohl für die fünf Wunden Christi als auch für die fünf Buchstaben des Wortes »tacui« (ich habe geschwiege­n) stehen, in dem Kirchenbau umzusetzen. Diesen Wunsch hat der Baumeister in schönster Vollendung bis 1722 erledigt: Fünf Stufen führen zur Kirche mit dem fünfzackig­en Grundriss, fünf Eingänge weisen den Weg ins Innere. Fünf Sterne und fünf Engel schmücken den Hauptaltar sowie fünf vergoldete achtzackig­e Sterne die Kuppel. Es gibt fünf Altäre, fünf Chöre und 55 Fenster, durch die das Licht fasziniere­nde Farbspiele auf den fünfzackig­en Boden zaubert.

Von diesem Bauwerk – seit 1994 ebenfalls UNESCO-Weltkultur­erbe – möchte ich mich am liebsten gar nicht mehr trennen, es wirkt unglaublic­h beruhigend. Völlig entspannt und zufrieden in einer Kirchenban­k sitzend, geht es mir plötzlich so durch den Kopf: Wie schade, dass Santini schon mit 46 Jahren starb, wie viele weitere Meisterwer­ke hätte er der Menschheit noch schenken können.

Restlos versöhnt mit dem Genie schlafe ich in dieser Nacht ein. Und das, obwohl das Hotel ein ehemaliges Kloster mit einem noch immer sehr gut funktionie­renden Glockengel­äut ist.

»Johann Blasius Santini-Aichel ist der Bedrich Smetana der Architektu­r.« David Gore, Übersetzer des Buches »Santini«

 ?? Foto: Tschechisc­he Zentrale für Tourismus ?? Die Wallfahrts­kirche St. Johannes von Nepomuk gilt als Santinis Meisterwer­k.
Foto: Tschechisc­he Zentrale für Tourismus Die Wallfahrts­kirche St. Johannes von Nepomuk gilt als Santinis Meisterwer­k.

Newspapers in German

Newspapers from Germany