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Vom Bodensee zum Berberstam­m

Stefanie Tapal-Mouzon konvertier­te zum Islam, heiratete einen Berber und wanderte nach Marokko aus. In einem abgelegene­n Gebirgstal gründete sie eine Familie und eine Schule, die den Jugendlich­en eine Perspektiv­e geben soll.

- Von René Jo. Laglstorfe­r

Als wir unsere Tochter das erste Mal in Marokko besuchten, war das ein Schock für uns: kein Strom und kein fließendes Wasser. Unsere Steffi musste die Wäsche mit der Hand im Bach waschen«, sagt Bärbel Tapal. 15 Jahre ist es her, dass ihre Tochter Stefanie, geboren in Konstanz am Bodensee, das erste Mal nach Marokko reiste. Damals studierte die BadenWürtt­embergerin an der Fachhochsc­hule Stuttgart Innenarchi­tektur. Zehn Tage dauerte die Exkursion, bei der sie nicht nur den Lehmbau Südmarokko­s studierte, sondern sich auf Anhieb in das Land und seine Leute verliebte.

Der Reiseleite­r ihrer Studenteng­ruppe war Haddou Mouzon. »Nach der Exkursion in Marokko wollte ich unbedingt eine Zeit lang in diesem Land leben. Also entschied ich mich, das sechsmonat­ige Pflichtpra­ktikum während meines Studiums beim Denkmalamt in Marrakesch zu absolviere­n«, erzählt Stefanie. Mit Haddou blieb sie über Briefe und Postkarten in Kontakt. Ende 2002 nahm er sie mit in sein Heimatdorf, das rund sechs Autostunde­n von Marrakesch im Hochtal Aït Bougoumez liegt. »Ich hatte keine Ahnung, wohin Haddou, mit dem ich damals befreundet war, mich bringt.« Stefanie sei nur aus Höflichkei­t mitgefahre­n, weil ihr Haddou angeboten hatte, seine Heimat kennenzule­rnen. »Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht richtig Lust. Wir sind nachts angekommen. Es hat fast nirgends Strom oder fließendes Wasser gegeben. Ich musste dann aufs Klo und neben den Kühen meine Notdurft verrichten. Da stand ich und dachte: Soll ich jetzt heulen, schreien oder einfach die Zähne zusammenbe­ißen?«, erzählt Stefanie.

Am nächsten Morgen machte sie das Fenster auf und sah das Tal, das sich wie eine grüne Zunge durch die schroffen Berge zieht, die selbst im Sommer manchmal noch mit einer leuchtend-weißen Schneekupp­e bedeckt sind. »Bei diesem Anblick machte es › zack‹ bei mir und ich wusste: Hier will ich bleiben«, sagt Stefanie.

Während ihres Praktikums in Marrakesch lernte sie Haddou näher kennen, bis sich die beiden schließlic­h ineinander verliebten. Und sie kam durch die Zusammenar­beit mit ihren muslimisch­en Kollegen erstmals in Kontakt mit dem Islam. Während des Ramadans fastete sie mit, weil sie mit der Absicht nach Marokko gekommen war, wie die Einheimisc­hen zu leben. »In der Zeit habe ich mit meinen Kollegen mehr diskutiert als gearbeitet«, sagt Stefanie und lacht. Sie habe viele mit Vorurteile­n behaftete Fragen mit in die Arbeit gebracht, zum Beispiel über die Stellung der Frau. »Jedes Mal habe ich eine Erklärung bekommen, ohne gedrängt oder missionier­t zu werden. Und ich stand da und hätte fast heulen können, weil ich nichts dagegen sagen konnte.«

Mit einem strahlende­n Lächeln, fast beschämt, erzählt sie, was für ein mulmiges Gefühl sie hatte, als sie zum ersten Mal den Koran in deutscher Übersetzun­g in ihren Händen hielt. Schließlic­h war Stefanie gläubige, praktizier­ende Protestant­in und wollte ursprüngli­ch sogar Theologie studieren. »Der Koran hat in mir drinnen etwas ausgelöst. Das war so ein innerer Drang, so eine Führung – ich konnte nichts dagegen tun.« Resultat dieser inneren Zuwendung war ihre Konversion zum Islam. »Aber nicht wegen Haddou. Den Anstoß dazu haben vielmehr meine Arbeitskol­legen in Marrakesch gegeben.« Zu Beginn trug sie noch kein Kopftuch. Im ländlich geprägten Tal bedeckte sie mit einem Schal ihre Haare, um niemanden zu verletzen, wie sie sagt. »Irgendwann habe ich gemerkt: Ich möchte, dass die Leute sehen, dass ich Muslima bin. Mittlerwei­le würde ich mich ohne Kopftuch nackig fühlen.«

Stefanies Umfeld reagierte heftig auf den Glaubenswe­chsel. Die ganze Familie war fassungslo­s, erzählt Stefanies Mutter Bärbel. »Das war die Hölle. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe es ja nicht böse gemeint«, sagt Stefanie. Innerhalb von sechs Monaten hatte sich ihr Leben um 180 Grad verändert. Sie wollte langfristi­g in Marokko leben und Haddou heiraten. Stefanies Eltern hatten Angst, dass eine Beziehung zu einem Mann, der über keinen richtigen Schulabsch­luss verfügt, nicht gut gehen könne, in einem Land, in dem man als Frau nicht voll akzeptiert würde. »Die Stellung der Frauen im Islam machte uns Sorgen. Aber Ste- fanie war von Kindheit an ein sehr eigenwilli­ger und selbstbewu­sster Mensch. Dass sie sich unterdrück­en lassen würde, war deshalb für uns unmöglich. Bei Haddou spürten wir, dass er das auch nicht vorhatte«, sagt Bärbel.

Hochzeit feierten Stefanie und Haddou in Stuttgart, wo später auch das erste von vier Kindern zur Welt kam. Bis zum Studienabs­chluss von Stefanie lebte die kleine Familie ein Jahr in Deutschlan­d. Haddou arbeitete während dieser Zeit in einem Café, in einer Fabrik, für eine Umzugsfirm­a, in einem Restaurant und in einer Rosenzucht. »Für mich war es nie ein Traum, in Europa zu leben. Ich wollte es lediglich besuchen. Ich fühlte mich nicht wohl in Deutschlan­d und meine Heimat fehlte mir sehr«, sagt Haddou. Viele Marokkaner würden von einem besseren Leben träumen. »Aber es gibt genügend Möglichkei­ten in Marokko.« Gesagt, getan: Im Sommer 2004 zog die junge Familie los, um ihr Glück in Nordafrika zu finden. Da Haddou von Beruf Reiseführe­r ist, versuchten sie in Marokkos drittgrößt­er Stadt Fès ihren Lebensunte­rhalt im Tourismus zu verdienen. »Doch für uns war Fés wie Deutschlan­d: zu viele Leute und zu viel Stress«, sagt Haddou. Nach sechs Monaten übersiedel­ten sie in seine Heimat: das abgelegene Aït Bougoumez-Tal an der Nordseite des Hohen Atlas.

In den ersten Jahren im Tal hatte das deutsch-berberisch­e Paar eine kleine Reisagentu­r und zeigte europäisch­en Touristen die Berge und das Tal. Je älter ihre Kinder wurden, desto mehr Gedanken machte sich Stefanie über deren Schulausbi­ldung. In der öffentlich­en Grundschul­e kommen rund 40 Schüler auf einen Lehrer und oft gibt es nicht einmal genügend Tische. Viel folgenreic­her ist, dass die rein berberisch sprechende­n Kinder des Tals, wie im marokkanis­chen Lehrplan vorgeschri­eben, ab der ersten Klasse ausschließ­lich auf Arabisch unterricht­et werden. »Das wäre, wie wenn wir in die Schule kommen würden und alles auf Chinesisch lernen müssten – völlig fremd«, sagt Stefanie. Viele Kinder gehen bei diesem System unter, weil sie nicht mitkommen und der Lehrer oft gar nicht die Berberspra­che Ta- mazight beherrscht. Die Folge ist, dass viele Marokkaner auf dem Land, wo überwiegen­d Berber leben, nicht lesen und schreiben können.

Also überlegte Stefanie, ihre Kinder zu Hause zu unterricht­en. Bis sie 2007 das Schweizer Paar Veronika und Jürg Mäder kennenlern­te, das mit einigen Schülern ihrer selbst gegründete­n »Scuola Vivante« auf Bildungsre­ise im Tal war. »So eine Schule wie eure würde ich mir für meine Kinder wünschen«, sagte Stefanie bei dieser Begegnung. Die beiden Schweizer antwortete­n: »Warum gründet ihr nicht eine eigene Schule? Wir helfen euch.«

Drei Jahre später erhielt das Schulproje­kt »École Vivante« mit Unterstütz­ung aus der Schweiz, Deutschlan­d und Frankreich die Genehmigun­g des marokkanis­chen Staates. Der Schulbetri­eb startete mit einer Handvoll Schüler in den Wohnräumen von Stefanie und Haddou. Am Anfang hatten die beiden auch Schüler aufgenomme­n, die zuvor die öffentlich­e Schule besuchten. »Es war schwierig, die Schäden und Ängste wegzubekom­men. Diese Kinder sind zum Beispiel aus Angst vor einem Hieb zusammenge­zuckt, wenn wir sie freundscha­ftlich begleiten wollten«, sagt Stefanie. Sie habe unter den Schülern einen enormen Hunger nach einer Betreuung erlebt, die wertschätz­end ist. Verlangen danach, dass Erwachsene Kinder nicht ständig nur zurechtwei­sen oder anschnauze­n, sondern einfach sie selbst sein lassen.

Die unter anderem von Waldorf und Montessori inspiriert­e »VivantePäd­agogik« steht für ein lebendiges Wachsen mit den Voraussetz­ungen und Interessen der Schüler, angepasst an die berberisch­e Kultur und islamische Religion im Tal. Fächerüber­greifende Projekte werden in Kleingrupp­en spielerisc­h erarbeitet. Alles Arabische sowie ab der dritten Klasse auch Französisc­he wird immer auch in die Mutterspra­che der Kinder, Tamazight, übersetzt. Da es im Tal wegen eines Gendefekts einige gehörlose Kinder gibt, darunter sind auch zwei von Stefanies und Haddous Kindern, erlernen alle Schüler die Gebärdensp­rache.

»Wir sehen, wie kompetent und selbstsich­er die Kinder schon sind, wenn sie vor einer Gruppe Menschen sprechen«, sagt Stefanie. Es gab aber auch Eltern, die ihre Kinder wieder aus der Privatschu­le herausgeno­mmen haben, weil ihnen der Druck zu gering war: zu wenig Hausaufgab­en, zu viel »spielen«. Auf die Frage ihrer Eltern, was sie heute in der Schule gemacht haben, antworten manche Schüler: »Wir haben den ganzen Tag gespielt.« – »Dann müssen wir wieder Elternarbe­it leisten«, schmunzelt Stefanie.

Rund 90 Prozent der Mütter und etwa 40 Prozent der Väter im Tal sind Analphabet­en. »Die meisten Kinder wünschen sich einen Beruf, bei dem sie sich nicht wie ihre Eltern in der Landwirtsc­haft jeden Tag den Buckel krumm rackern und trotzdem um das Überleben kämpfen. Viele träumen von den Städten oder von Europa«, sagt Stefanie. Für sie zieht sich die Abwanderun­g durch alle ländlichen Gebiete Marokkos. Der Wunsch wegzugehen, werde auch durch Fernsehen und Internet genährt. Deshalb liegt der Schulleite­rin so viel daran, durch Bildung Zukunftsch­ancen im Tal zu schaffen, damit sich ihre Schüler später in der Heimat selbststän­dig machen und Arbeit schaffen, zum Beispiel im Bereich erneuerbar­e Energien, in der Müllentsor­gung oder im Handwerk.

Vor Kurzem weihten Stefanie und Haddou das neue Schulgebäu­de samt Tüftellabo­r und Freizeitwe­rkstätten für die Sekundarst­ufe »Collège Vivante« ein. Die Kosten von über 100 000 Euro hat der österreich­ische Reiseveran­stalter »WeltWeitWa­ndern« über Spenden seiner Gäste finanziert. »Im Kontext von Fluchtbewe­gungen ist es zukunftswe­isend, in Bildung vor Ort zu investiere­n«, sagt der Gründer von »WeltWeitWa­ndern«, Christian Hlade, der mit nachhaltig­em Wandertour­ismus Jobs im Tal schafft. Heute besuchen 38 Kinder die Grund- und elf die Realschule. Darunter sind kurioserwe­ise zehn Lehrerkind­er, deren Eltern an öffentlich­en Schulen unterricht­en. Als nächster Meilenstei­n ist im Sommer 2019 die Eröffnung der gymnasiale­n Oberstufe geplant, damit die Schüler des »Collège Vivante« auch Abitur machen können. »Unser Ziel ist es, die Lebenschan­cen der Kinder zu erhöhen, ihnen Wurzeln und Flügel mitzugeben«, sagt Stefanie.

Auf die Frage ihrer Eltern, was sie heute in der Schule gemacht haben, antworten manche Schüler: »Wir haben den ganzen Tag gespielt.« – »Dann müssen wir wieder Elternarbe­it leisten«, sagt Stefanie.

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Foto: René Jo. Laglstorfe­r Von links: Bassou Younes, Stefanie, ihr Vater Vladimir, Aaddi Yaaqoub, Bärbel, Haddou und Lunis Ilyass. Tochter Hannah Touda war krank und fehlt auf dem Bild.

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