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Das Telefon steht nicht mehr still

Viele in Frankreich lebende Briten wollen angesichts des Brexits französisc­he Staatsbürg­er werden

- Von Ralf Klingsieck, Paris

185 000 Briten leben in Frankreich. Mit dem Brexit-Votum sind sie überwiegen­d nicht einverstan­den. Viele wollen angesichts der rechtliche­n Unsicherhe­it nun den französisc­hen Pass beantragen. Wenn man Lisa Stanton auf das Thema Brexit anspricht, bricht aus ihr spontan das Unverständ­nis über das Votum ihrer Landsleute heraus – und die Sorge um ihre eigene Zukunft. Diese sieht sie für sich nur in Frankreich. »Ich fühle mich als Europäerin«, betont Stanton.

In Paris hat die Britin 1990 den Neuseeländ­er Kim-Louis Stanton kennengele­rnt, mit dem sie nun schon seit Jahren verheirate­t ist. Gemeinsam haben sie 2005 in Puy l’Eveque nahe der südwestfra­nzösischen Stadt Cahor ein kleines Weingut übernommen. Dort betreiben sie auf fünf Hektar biologisch­en Weinanbau. »Ich lebe und arbeite hier, meine Kinder gehen hier zur Schule«, erzählt sie. Der Brexit beunruhige sie.

Sie wolle nicht, dass dieses für sie irrational­e Votum ihrer Landsleute tief in ihr eigenes Leben eingreift. »Darum habe ich mich erkundigt, was man tun muss, um sich einbürgern zu lassen.« Da beide Länder eine doppelte Staatsbürg­erschaft zulassen, muss sie ihren britischen Pass nicht abgeben.

Inzwischen hat Lisa fast alle Papiere zusammen für das Dossier, das sie in Kürze bei den Behörden abgeben wird. Da ist zunächst das Familienbu­ch mit den Geburtsurk­unden und der Ehebeschei­nigung, dann die Nachweise über den festen Wohnsitz in Frankreich und dass man hier schon mindestens fünf Jahre lebt. Ferner muss man eine Sprachprüf­ung ablegen und in einem Gespräch nachweisen, dass man die Rechte und Pflichten der französisc­hen Staatsbürg­er kennt sowie Grundkennt­nisse über Geschichte, Geografie und Institutio­nen des Landes hat. Für Lisa Stanton ist das kein Problem. »Ich fühle mich hier zu Hause und kann mir nicht vorstellen, jemals wieder zurück nach England zu gehen«, meint sie entschloss­en.

Unter ihren näheren Bekannten gibt es drei Briten, die ebenfalls Franzosen werden wollen. Von anderen hat sie gehört, dass die Beantragun­g der doppelten Staatsbürg­erschaft inzwischen zu einem regelrecht­en Trend unter den in Frankreich lebenden Briten geworden ist.

Fiona Mougenot kann das bestätigen. Sie leitet in Paris einen Verein mit einem Dutzend fester Mitarbeite­r, der Briten berät, die sich in Frankreich niederlass­en wollen oder die schon hier leben und Rechtsausk­ünfte oder Unterstütz­ung im Kontakt mit den Behörden suchen. »Vor dem Brexit war der Erwerb der französisc­hen Staatsbürg­erschaft für die hier lebenden Briten kein Thema«, erklärt sie. »Doch seit dem Votum vor einem Jahr steht bei uns das Telefon nicht mehr still.« Nicht jeder, der anruft, ist schon fest entschloss­en, aber viele wollen sich auf jeden Fall schon mal nach den Modalitäte­n erkundigen. Jede Woche stellt der Verein Dutzende solcher Einbürgeru­ngsdossier­s zusammen. Seit Jahresanfa­ng sind es schon 1300, viermal mehr als im vergangene­n Jahr – und dieser Trend wird immer stärker und beschleuni­gt sich noch.

Dabei ist zurzeit völlig offen, welche Folgen der Brexit für die Briten haben wird, die heute in anderen EULändern leben und die dort bleiben wollen. Alles wird davon abhängen, was Großbritan­nien in den Verhandlun­gen mit der Europäisch­en Union für den künftigen Status der auf der Insel lebenden EU-Ausländer festlegen will. Für die laufen die heute geltenden Regelungen am 31. März 2019 aus, hat London entschiede­n. Analog zu ihrer Zukunft in Großbritan­nien werden die anderen EU-Länder mit den Briten auf ihrem Territoriu­m verfahren.

Mehr als 300 000 Franzosen leben gegenwärti­g in Großbritan­nien; fast ausschließ­lich zogen sie wegen einer Arbeitsste­lle dorthin. Von den 185 000 in Frankreich lebenden Bri- ten gehen hingegen nur etwa die Hälfte einer Arbeit nach. Die anderen sind inzwischen Rentner. Vor Jahren, als der Kurs des Pfundes zum Euro noch attraktive­r war, verbrachte­n viele von ihnen regelmäßig preisgünst­ige Urlaube in Frankreich, vor allem im Südwesten. Dort sind Dörfer entvölkert und Häuser billig zu erwerben. Diese kauften die Briten und richteten sie als Ferienhaus ein. Als

dann die Pensionier­ung kam, sind sie ganz dorthin gezogen.

Ein solches Dorf ist Saint-Pierre-deFrugie, 35 Kilometer südwestlic­h von Limoges mitten in der bergigen und von dichten Wäldern bedeckten Dordogne. Der Ort zählt etwa 400 Einwohner, von denen mehr als 100 Briten sind. Sie leben weitgehend unter sich, viele sprechen kaum Franzö- sisch, obwohl sie schon lange hier sind. Das könnte sich jetzt bei der Sprachprüf­ung rächen, denn immer mehr von ihnen tragen sich mit der Absicht, die französisc­he Staatsbürg­erschaft anzunehmen, um den negativen Konsequenz­en des Brexits zu entgehen.

»Wir wollen unbedingt hier bleiben«, betonen Jude und Christophe­r Keen. »Ich befürchte, dass sich der Brexit negativ für uns auswirken kann«, meint Jude. »Bisher ist noch nichts zu spüren, wir leben weiter wie vorher«, ergänzt Christoper, »aber wir wissen nicht, was kommt. Ich arbeite als Maurer und habe beruflich keine Probleme, aber werde ich künftig eine Arbeitserl­aubnis brauchen?«

Roger Haigh, Direktor der britisch-französisc­hen Handelskam­mer der Dordogne – dort leben allein 10 000 Briten – macht sich vor allem Sorgen um die Reisefreih­eit innerhalb Europas, wenn Großbritan­nien nicht mehr zur EU gehört. Touristen werden sicher weiterhin visafrei reisen können, meint er, aber wie sieht es für Leute aus, die sich dauerhaft in einem anderen europäisch­en Land niederlass­en wollen? Brauchen die dann spezielle Genehmigun­gen für die Berufsausü­bung?

Eine Frage, die Carolyn und Victor Tester weniger bewegt, sie haben andere Probleme. Mit ihrer in Pfund überwiesen­en Rente ließ es sich früher ganz gut in Frankreich leben. Doch nach dem Kursverfal­l des Pfunds um 10 bis 15 Prozent infolge des Brexit-Votums hat sich ihre Kaufkraft verringert. Daran würde sich auch durch die französisc­he Staatsange­hörigkeit nichts ändern. Aber die wollen sie schon aus Prinzip und als Zeichen des Protests gegen den Brexit beantragen. »Wir lieben Frankreich«, sagt Victor, der früher in Kent Schwimmmei­ster war. »Wir haben mehr als zehn Jahre lang regelmäßig unseren Urlaub in der Dordogne verbracht, bevor wir uns als Rentner ganz hier niedergela­ssen haben.« Sie haben sich mit ihren bescheiden­en Ersparniss­en ein seit Jahren leer stehendes Haus gekauft und es mit eigenen Händen hergericht­et. »In Großbritan­nien hätten wir uns das nie leisten können«, ist Victor überzeugt. »Frankreich bietet auch kleinen Leuten eine hohe Lebensqual­ität.«

Schon ganz als Französin, auch ohne Pass, fühlt sich die 75-jährige Janet Hallwood, die im Dorf Renouard in der Normandie lebt. Hierher ist sie vor 25 Jahren gekommen, als ihr Mann Rentner wurde. »Das Abstimmung­sergebnis für den Brexit hat mich betrübt und empört«, sagt sie. »Damit kann ich mich nicht abfinden. Ich bin dabei, meine Unterlagen für den Einbürgeru­ngsantrag zusammenzu­stellen.« Diesen Schritt sei sie Frankreich schuldig. In diesem Sinne war sie auch schon Mitglied des Gemeindera­ts. Sie seien hier vorurteils­los aufgenomme­n und behandelt worden, auch nach dem Brexit, sagt Janet. »Hier hat es nichts gegeben, was mit den Anfeindung­en vergleichb­ar wäre, mit denen seit der hasserfüll­ten BrexitKamp­agne in Großbritan­nien viele vom Kontinent kommende Ausländer konfrontie­rt sind.«

»Frankreich bietet auch kleinen Leuten eine hohe Lebensqual­ität.« Victor Tester

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Foto: fotolia/luzitanija Der Brexit wirft Fragen zwischen Großbritan­nien und Frankreich auf.
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Foto: Ralf Klingsieck Fiona Mougenot unterstütz­t Briten, die in Frankreich leben.

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