Auf der Flucht verloren gegangen
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verschwinden vielfach, doch Grund zur Sorge besteht nicht immer
Tausende Minderjährige, die unbegleitet nach Deutschland eingereist sind, gelten als vermisst. Über das genaue Ausmaß herrscht erstaunliche große Unklarheit. Es ist eine Zahl, die aufhorchen lässt. Laut Statistiken des Bundeskriminalamtes (BKA) werden in Deutschland aktuell 6447 minderjährige Flüchtlinge vermisst, die unbegleitet eingereist sind. Nach einer langen und strapaziösen Flucht, ohne Eltern oder anderweitige Begleitung, wurden sie von lokalen Jugendämtern in Obhut genommen. Deren Mitarbeiter organisierten ihre Betreuung, brachten sie in speziellen Einrichtungen unter und kümmerten sich um ihre Versorgung. Doch nicht alle Flüchtlinge bleiben in den Unterkünften, die ihnen von den Behörden zugewiesen wurden.
Manche verschwinden plötzlich, ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Allein im Vorjahr zählte das BKA insgesamt 10 000 solcher Fälle – ein Anstieg um 2000 Fälle gegenüber dem Jahr 2015. Die hohen Vermisstenzahlen haben in den letzten Monaten und Jahren verschiedene spektakuläre Schlagzeilen produziert, getragen von Besorgnis und Alarmismus. Die Realität ist jedoch weniger dramatisch, als es auf den ersten Blick erscheint. Grundsätzlich würden sich die meisten Vermisstenfälle schnell in Wohlgefallen auflösen, berichtet die BKA-Sprecherin Daniele Treude auf Anfrage des »nd«.
Viele der Minderjährigen werden demnach bald wieder entdeckt, beispielsweise bei einer Polizeikontrolle. Rund 74 Prozent der Fälle haben sich 2016 auf diese und ähnliche Weise aufgeklärt, sagt die Behörde. Andere Flüchtlinge wiederum bleiben zwar offiziell vermisst, halten sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem sicheren Umfeld auf. Treude berichtet, dass Deutschland für viele unbegleitete Minderjährige lediglich Transitland sei – sie wollen zügig in andere Länder der Europäischen Union weiterreisen. Ihr Ziel sind meistens Angehörige oder Bekannte der Familie, die dort leben. »Kommen die Kinder und Jugendlichen sicher bei ihnen an«, sagt Treude, »erhalten die deutschen Behörden in den seltensten Fällen Rückmeldungen.«
Auch Tobias Klaus vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) teilt die Einschätzung, dass sich viele Vermisste selbstständig auf den Weg zu Bezugspersonen machen. Er sieht ein Problem in den Regelungen zur Verteilung, die nach Quote erfolgt. Hierbei würden das Interesse der Jugendlichen und Zusammenführungen nicht hinreichend berücksichtigt, sagt Klaus gegenüber »nd«. Einige entschließen sich dann, selbstständig zu Bekannten oder Verwandten weiterzureisen. Die Gefahr von Abgängen erhöhe sich zudem, wenn fehlende Perspektiven und Angst hinzukommen, etwa wenn Jugendliche nach abgeschlossener Schulbildung aufgrund geringer Bleibeperspektiven keine Ausbildung aufnehmen dürfen.
Allerdings lösen sich längst nicht alle Vermisstenfälle in Wohlgefallen auf. Die ARD hat Anfang des Jahres für die Dokumentation »Verschwun- den in Deutschland« recherchiert, was aus einigen der vermissten Flüchtlinge geworden ist. Dabei wurde das Team teilweise im kriminellen Milieu fündig, einem Umfeld aus Drogen und Prostitution. Als mittellose Jugendliche waren sie offenbar ein leichtes Ziel für Kriminelle, die sie für ihre Zwecke ein-
»Es ist wichtig, den Jugendlichen eine Perspektive im System aufzuzeigen.«
Tobias Klaus, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge setzen. Wie verbreitet das Problem tatsächlich ist, kann gegenwärtig niemand sagen. Weder das BKA noch die Bundesregierung besitzen verlässliche Erkenntnisse darüber. Es ist noch immer ein blinder Fleck, der erst langsam ausgeleuchtet wird.
Überhaupt sind konkrete Daten Mangelware. Mit Ausnahme von Vermisstenzahlen und Aufklärungsquoten können die Behörden keine verlässlichen Zahlen präsentieren, die eine Einschätzung erlauben. Zudem sind laut Daniele Treude Mehr- fachregistrierungen ein Problem, das die BKA-Statistik möglicherweise verfälscht. Es sei denkbar, dass ein Minderjähriger nach seinem Verschwinden in einer anderen Kommune ein zweites Mal erfasst wird. Variiert dann die Schreibweise seines Namens oder gibt er beim zweiten Mal einen anderen Namen an, werde dieselbe Person nach erneutem Verschwinden zweimal als vermisst gemeldet. Die Vermisstenzahlen könnten so höher liegen als die der realen Fälle.
Alle Fälle von vermissten Jugendlichen aufzuklären, ist entsprechend diffizil. Unstrittig ist unter Experten allerdings, dass die Betreuung der Betroffenen verbessert werden sollte. »Es ist wichtig, den Jugendlichen eine Perspektive im System aufzuzeigen«, sagt auch Tobias Klaus. Außerdem müsse sichergestellt werden, dass bei den Verteilungsverfahren die Interessen des Kindes angemessen berücksichtigt werden. Die Möglichkeiten der legalen Weiterreise aus den EU-Erstaufnahmestaaten zu Bezugspersonen sollte darüber hinaus dringend verbessert werden, damit die Minderjährigen nicht auf Schlepper angewiesen sind. »Wenn dies erfolgt«, betont Klaus, »dann würde die Quote der Vermissten mit Sicherheit stark abnehmen.«