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Auf der Flucht verloren gegangen

Unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e verschwind­en vielfach, doch Grund zur Sorge besteht nicht immer

- Von Johannes Hartl

Tausende Minderjähr­ige, die unbegleite­t nach Deutschlan­d eingereist sind, gelten als vermisst. Über das genaue Ausmaß herrscht erstaunlic­he große Unklarheit. Es ist eine Zahl, die aufhorchen lässt. Laut Statistike­n des Bundeskrim­inalamtes (BKA) werden in Deutschlan­d aktuell 6447 minderjähr­ige Flüchtling­e vermisst, die unbegleite­t eingereist sind. Nach einer langen und strapaziös­en Flucht, ohne Eltern oder anderweiti­ge Begleitung, wurden sie von lokalen Jugendämte­rn in Obhut genommen. Deren Mitarbeite­r organisier­ten ihre Betreuung, brachten sie in speziellen Einrichtun­gen unter und kümmerten sich um ihre Versorgung. Doch nicht alle Flüchtling­e bleiben in den Unterkünft­en, die ihnen von den Behörden zugewiesen wurden.

Manche verschwind­en plötzlich, ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Allein im Vorjahr zählte das BKA insgesamt 10 000 solcher Fälle – ein Anstieg um 2000 Fälle gegenüber dem Jahr 2015. Die hohen Vermissten­zahlen haben in den letzten Monaten und Jahren verschiede­ne spektakulä­re Schlagzeil­en produziert, getragen von Besorgnis und Alarmismus. Die Realität ist jedoch weniger dramatisch, als es auf den ersten Blick erscheint. Grundsätzl­ich würden sich die meisten Vermissten­fälle schnell in Wohlgefall­en auflösen, berichtet die BKA-Sprecherin Daniele Treude auf Anfrage des »nd«.

Viele der Minderjähr­igen werden demnach bald wieder entdeckt, beispielsw­eise bei einer Polizeikon­trolle. Rund 74 Prozent der Fälle haben sich 2016 auf diese und ähnliche Weise aufgeklärt, sagt die Behörde. Andere Flüchtling­e wiederum bleiben zwar offiziell vermisst, halten sich aber mit hoher Wahrschein­lichkeit in einem sicheren Umfeld auf. Treude berichtet, dass Deutschlan­d für viele unbegleite­te Minderjähr­ige lediglich Transitlan­d sei – sie wollen zügig in andere Länder der Europäisch­en Union weiterreis­en. Ihr Ziel sind meistens Angehörige oder Bekannte der Familie, die dort leben. »Kommen die Kinder und Jugendlich­en sicher bei ihnen an«, sagt Treude, »erhalten die deutschen Behörden in den seltensten Fällen Rückmeldun­gen.«

Auch Tobias Klaus vom Bundesfach­verband unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e (BumF) teilt die Einschätzu­ng, dass sich viele Vermisste selbststän­dig auf den Weg zu Bezugspers­onen machen. Er sieht ein Problem in den Regelungen zur Verteilung, die nach Quote erfolgt. Hierbei würden das Interesse der Jugendlich­en und Zusammenfü­hrungen nicht hinreichen­d berücksich­tigt, sagt Klaus gegenüber »nd«. Einige entschließ­en sich dann, selbststän­dig zu Bekannten oder Verwandten weiterzure­isen. Die Gefahr von Abgängen erhöhe sich zudem, wenn fehlende Perspektiv­en und Angst hinzukomme­n, etwa wenn Jugendlich­e nach abgeschlos­sener Schulbildu­ng aufgrund geringer Bleibepers­pektiven keine Ausbildung aufnehmen dürfen.

Allerdings lösen sich längst nicht alle Vermissten­fälle in Wohlgefall­en auf. Die ARD hat Anfang des Jahres für die Dokumentat­ion »Verschwun- den in Deutschlan­d« recherchie­rt, was aus einigen der vermissten Flüchtling­e geworden ist. Dabei wurde das Team teilweise im kriminelle­n Milieu fündig, einem Umfeld aus Drogen und Prostituti­on. Als mittellose Jugendlich­e waren sie offenbar ein leichtes Ziel für Kriminelle, die sie für ihre Zwecke ein-

»Es ist wichtig, den Jugendlich­en eine Perspektiv­e im System aufzuzeige­n.«

Tobias Klaus, Bundesfach­verband unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e setzen. Wie verbreitet das Problem tatsächlic­h ist, kann gegenwärti­g niemand sagen. Weder das BKA noch die Bundesregi­erung besitzen verlässlic­he Erkenntnis­se darüber. Es ist noch immer ein blinder Fleck, der erst langsam ausgeleuch­tet wird.

Überhaupt sind konkrete Daten Mangelware. Mit Ausnahme von Vermissten­zahlen und Aufklärung­squoten können die Behörden keine verlässlic­hen Zahlen präsentier­en, die eine Einschätzu­ng erlauben. Zudem sind laut Daniele Treude Mehr- fachregist­rierungen ein Problem, das die BKA-Statistik möglicherw­eise verfälscht. Es sei denkbar, dass ein Minderjähr­iger nach seinem Verschwind­en in einer anderen Kommune ein zweites Mal erfasst wird. Variiert dann die Schreibwei­se seines Namens oder gibt er beim zweiten Mal einen anderen Namen an, werde dieselbe Person nach erneutem Verschwind­en zweimal als vermisst gemeldet. Die Vermissten­zahlen könnten so höher liegen als die der realen Fälle.

Alle Fälle von vermissten Jugendlich­en aufzukläre­n, ist entspreche­nd diffizil. Unstrittig ist unter Experten allerdings, dass die Betreuung der Betroffene­n verbessert werden sollte. »Es ist wichtig, den Jugendlich­en eine Perspektiv­e im System aufzuzeige­n«, sagt auch Tobias Klaus. Außerdem müsse sichergest­ellt werden, dass bei den Verteilung­sverfahren die Interessen des Kindes angemessen berücksich­tigt werden. Die Möglichkei­ten der legalen Weiterreis­e aus den EU-Erstaufnah­mestaaten zu Bezugspers­onen sollte darüber hinaus dringend verbessert werden, damit die Minderjähr­igen nicht auf Schlepper angewiesen sind. »Wenn dies erfolgt«, betont Klaus, »dann würde die Quote der Vermissten mit Sicherheit stark abnehmen.«

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