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Ungarn will den heißen Draht zurück

Alt-Dissidente­n auf der Regierungs­bank in Budapest erweisen sich zunehmend als Retro-Sozialiste­n

- Von Thomas Roser, Belgrad

Ungarns regierende Ex-Dissidente­n setzen auf die Wiederbele­bung sozialisti­scher Relikte. Nach dem Eisernen Vorhang als Anti-Flüchtling­swall soll das einstige interne Telefonsys­tem reaktivier­t werden. Die längst vergangene­n Jugendzeit­en sind es, die auch viele Politikers­eelen prägen. Einst fochten Ungarns Dissidente­n mit Verve gegen das sozialisti­sche Einparteie­nsystem. Nun sitzen sie an der Macht und bedienen sich ähnlicher Mittel wie ihre einstigen Gegner. Die nationalpo­pulistisch­e Fidesz-Partei von Premier Viktor Orban zimmert mit leninistis­ch anmutender Konsequenz an der Ab- sicherung ihres Machtmonop­ols – und der Wiederbele­bung sozialisti­scher Relikte.

Im Wendejahr 1989 war Ungarn noch einer der Schrittmac­her der Einigung des im Kalten Krieg gespaltene­n Kontinents: Beim »Paneuropäi­schen Picknick« bei Sopron wurde vor 28 Jahren der sogenannte Eiserne Vorhang von engagierte­n Bürgerrech­tlern und in den Westen drängenden DDR-Bürgern erstmals durchbroch­en.

Doch vom Schmusekur­s mit Moskau über die weitgehend­e Gleichscha­ltung der Presse bis hin zum Comeback des Eisernen Vorhangs als Antiflücht­lingswall scheint Budapest nun mit aller Kraft die »gute alte« Sozialiste­nzeit wiederbele­ben zu wol- len. Selbst von der Sehnsucht nach den geheimnisv­ollen »roten Telefonen« ihrer realsozial­istischen Vorväter scheinen deren Nachfolger an der Macht beseelt.

Der heiße Draht der »K-Linie« wurde in der Nachkriegs­zeit auf Anweisung des späteren Innenminis­ters und berüchtigt­en Staliniste­n Ernö Gerö angelegt, weil es damals in Ungarn kein verlässlic­hes Telefonnet­z gab. Bis Ende der 80er Jahre galt das »rote Telefon« und damit der Zugang zu dem internen Kommunikat­ionssystem der Nomenklatu­ra als Statussymb­ol für Parteifunk­tionäre, Behördench­efs, Chefredakt­eure, Gewerkscha­ftsführer und Fabrikdire­ktoren.

Mit den Herausford­erungen des Cyberkrieg­es und terroristi­scher Be- drohung begründet die heutige Regierung nun die geplante Rückkehr zum alten Netz.

Laut einer kürzlichen Ankündigun­g im ungarische­n Amtsblatt sollen künftig alle Ministerie­n, Polizeidie­nststellen, Regierungs­behörden und staatliche­n Krankenhäu­ser wieder mit Hilfe des alten Telefonnet­zwerkes kommunizie­ren.

Anrufer von außen sollen wie einst lediglich über eine manuell bediente Zentrale in das geschlosse­ne Telefonnet­z gelangen können. Nicht nur, weil gleichzeit­ig mehrere Minister mit der Schaffung eines geschlosse­nen mobilen Netzwerks beauftragt wurden, wittert die Opposition in der neuen Telefon-Geheimnisk­rämerei die Absicht der Regierung, sich auf diese Art jeglicher Kontrolle zu entziehen.

Auch ein zu Monatsbegi­nn eingebrach­ter Gesetzesen­twurf, alle Personalda­ten der ungarische­n Bürger in einem zentralen Computer zu speichern, mehrt bei Kritikern die Furcht vor einer Rückkehr des sozialisti­schen Überwachun­gsstaates. Dem Datenmissb­rauch seien bei der Umsetzung der Vorlage Tür und Tor geöffnet, warnt Ungarns Datenschut­zbeauftrag­ter Attila Peterfalvi.

Eher unwahrsche­inlich scheint hingegen die Rückkehr der alten roten Wählscheib­entelefone in die Amtsstuben. Auch die spät berufenen Retrosozia­listen am Regierungs­ruder wollen sich keineswegs mehr die Finger wund wählen.

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