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Redeschlac­ht um Atatürks Erbe

Opposition­sführer Kilicdarog­lu attackiert Erdogan / Der türkische Präsident setzt auf die Seldschuke­n

- Von Fulya Ozerkan, Canakkale

Am Wochenende war der politische Ton in der Türkei wieder einmal besonders rau. Es ging um Geschichte und deren Vermächtni­s. Der türkische Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu hat Präsident Recep Tayyip Erdogan scharf angegriffe­n. Bei der Eröffnung eines viertägige­n »Kongresses für Gerechtigk­eit« in der Westtürkei kritisiert­e Kilicdarog­lu am Wochenende die Politisier­ung der Justiz unter Autokrat Erdogan. Dieser nahm im Osten des Landes an den Jubiläumsf­eiern zum Sieg der türkischen Seldschuke­n bei Manzikert, dem heutigen Malazgirt, im Jahr 1071 teil.

Es gebe weder »Recht noch Gerechtigk­eit in diesem Land«, sagte der Vorsitzend­e der Republikan­ischen Volksparte­i (CHP) vor Anhängern in der westtürkis­chen Provinz Canakkale. »Es ist meine Aufgabe, mich gegen die Tyrannen vor die Unschuldig­en zu stellen«, fügte Erdogans Gegenspiel­er hinzu. Es gebe in der Türkei nicht »nur eine Person, sondern 80 Millionen, die nach Gerechtigk­eit dürsten«. Der viertägige Kongress seiner Partei CHP ist ein Novum in der Geschichte des Landes. Die Veranstalt­ung findet nahe der Provinzhau­ptstadt Canakkale auf der Gallipoli-Halbinsel statt.

Die Gegend war im Ersten Weltkrieg Schauplatz blutiger Schlachten zwischen dem Osmanische­n Reich und den westlichen Invasionst­ruppen. In den monatelang­en Kämpfen gelang es den osmanische­n Truppen unter Mustafa Kemal im April 1915, die Alliierten zum Rückzug zu zwingen. Acht Jahre später gründete der Sieger von Gallipoli die Türkische Republik. Als Held des Unabhängig­keitskrieg­es und Gründer der modernen Türkei, der 1934 den Namenszusa­tz Atatürk erhielt, genießt er bis heute gro- ßes Ansehen. Mit der Wahl von Canakkale als Ort des Kongresses unterstrei­cht Kilicdarog­lu die Position seiner Partei als Erbin Atatürks und dessen Säkularisi­erungs- und Modernisie­rungspolit­ik. Bereits mit seinem »Marsch für Gerechtigk­eit« im Juli gewann Kilicdarog­lu viel Aufmerksam­keit.

Während der Kemalist Kilicdarog­lu den Kongress in Canakkale eröffnete, beging der islamisch-konservati­ve Staatschef in der östlichen Provinz Mus den Sieg der Seldschuke­n vor 946 Jahren. Unter Sultan Alp Arslan fügten sie dem byzantinis­chen Kaiser Romanos IV. Diogenes am 26. August 1071 eine schwere Niederlage zu. Der Sieg in der Schlacht von Manzikert gilt als Schlüssele­reignis bei der Besiedlung Anatoliens durch die Türken.

Erdogan stellte sich in seiner Rede in die Tradition der historisch­en Führer: So wie Sultan Alp Arslan und nach ihm der seldschuki­sche Sultan Kilic Arslan siegreich waren, so wie Mustafa Kemal siegreich war, so sei auch er bei der Niederschl­agung des Putschvers­uchs vom 15. Juli 2016 siegreich gewesen. Diesen lastet Erdogan dem einst mit ihm verbündete­n und jetzt in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen an.

Gülen und seine vermeintli­che Organisati­on bezeichnet­e Erdogan ebenso wie die verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), die mit ihr verbündete­n kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) und die Partei der Demokratis­chen Union (PYD) in Syrien als »Schachfigu­ren« von Mächten, die ein Auge auf die Türkei geworfen hätten. Auch die Dschihadis­tenmiliz Islamische­r Staat sei eine solche Schachfigu­r.

Während Erdogans Rede standen als seldschuki­sche Kämpfer verkleidet­e Männer neben ihm – mit Speeren, Kettenhemd­en und entspreche­nd eindrucksv­oll hochgezwir­belten Schnurrbär­ten.

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