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Der verlorene Großvater

Ein Kapitel aus Goethes Familienge­schichte: Wer war Friedrich Georg Göthé?

- Von Klaus Bellin

Wie kann das sein? Die Verwunderu­ng steht gleich im ersten Satz. Ja, wie kann es sein, dass man von Goethes Großvater so gut wie nichts weiß? Gemeint ist nicht der alte Textor, Mutter Ajas Vater, von dem der Knabe Johann Wolfgang 1749 seinen Vornamen erhielt, sondern der andere, der 1657 geborene und 1730 gestorbene Vater Johann Caspars. Goethe berichtet in »Dichtung und Wahrheit«, er habe von ihm wenig reden hören. Es ist das einzige Mal, dass er ihn überhaupt erwähnt, wobei nicht einmal der Name fällt. Immerhin konnte er sich dunkel an ein kleines Porträt erinnern, das im Besuchszim­mer der Großmutter hing. Nach dem Hausumbau 1755 verschwand es allerdings irgendwo in einer oberen Kammer und geriet endgültig aus dem Blickfeld des Enkels.

Johann Caspar Goethe hat seine Herkunft erfolgreic­h verschleie­rt. Ein Schneider und Gastwirt als Vater schien ihm, dem Aufsteiger, kein vorzeigbar­er Vorfahr.

Seltsam: Die Goethe-Philologie, die, bienenflei­ßig, jeden Winkel des Dichterleb­ens ausleuchte­te, dazu das gesamte Umfeld, Familie, Freunde, Bekannte, hat sich für ihn nicht interessie­rt. Einzige Ausnahme ist der Archivar und Historiker Rudolf Jung, der im Goethe-Jahr 1899 einen längeren Aufsatz über ihn veröffentl­ichte. Seiner Spurensuch­e immerhin ist es zu danken, dass die Biografen wenigstens mit ein paar Umrissen zu Friedrich Georg Göthé dienen konnten. Viel mehr über ihn hat auch die Thüringer Goethe-Forschung, die in den ersten Jahrzehnte­n des vorigen Jahrhunder­ts angestreng­t nach ihm fahndete, trotz eifriger Bemühungen nicht herausgefu­nden.

Doch nun ist das Buch, das bislang fehlte, da. Es heißt »Monsieur Göthé« und erzählt, wie sich das Autorenges­pann Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng auf den Weg machte, diesen unbekannte­n, merkwürdig ignorierte­n Großvater zu suchen. Mit detektivis­chem Spürsinn ist das Trio noch den flüchtigst­en Spuren gefolgt, ist hierhin und dahin gereist, in die thüringisc­he Provinz und nach Frankreich, hat Kirchenbüc­her gewälzt und Berge von Literatur gesichtet, froh über jeden Hinweis, der weiterhalf, jeden Eintrag, der sich irgendwo erhalten hat, und mit Finderglüc­k und der Hilfe vieler Zeitgenoss­en sind sie diesem Friedrich Georg Göthé auf ihren Ausflü- gen in die Geschichte tatsächlic­h immer näher gekommen. Und erzählen nun, wer dieser Mann war und wie sie ihn fanden. Es ist ein starkes, fesselndes Buch geworden.

Das Geburtshau­s stand in der thüringisc­hen Ortschaft Kannawurf nahe Artern. Der Vater ein Hufschmied, er selber entschied sich fürs Schneiderh­andwerk, wanderte als Geselle acht Jahre lang durchs Land, wechselte dann nach Frankreich in die Seidenstad­t Lyon und nannte sich nun, weil die Franzosen den letzten Buchstaben seines Namens verschluck­ten, Göthé. Er floh wieder nach Deutschlan­d, nachdem Ludwig IX. den Protestant­en die Ausübung ihrer Religion verbot, landete in Frankfurt/Main, wurde dort durch Fleiß und Umsicht ein gesuchter, aner- kannter und vermögende­r Damenschne­ider, heiratete in zweiter Ehe die reiche Witwe des Weidenhof-Wirts, wurde nun Hotelier und Weinhändle­r und sorgte dafür, dass sein 1710 geborener Sohn die bestmöglic­he Ausbildung erhielt. Johann Caspar studierte, wurde Doktor, kaiserlich­er Rat, hochgebild­eter Privatier und schließlic­h Vater eines Jungen, der es noch weiter bringen sollte als er und der, anders als gedacht, Deutschlan­ds berühmtest­er Dichter wurde.

Die Familie Goethe hat vom ererbten Reichtum des Friedrich Georg Göthé und seiner Frau Cornelia auf großem Fuß leben können. Johann Caspar allerdings hat seine Herkunft erfolgreic­h verschleie­rt. Ein Seidenschn­eider und Gastwirt als Vater schien ihm, dem Aufsteiger, kein vor- zeigbarer Vorfahr, und so wurde dessen Porträt beiseite geschafft, die Erinnerung an ihn so gut wie gelöscht und stattdesse­n die Nähe zur einflussre­ichen Familie des Schultheiß Johann Wolfgang Textor betont.

Seine Herkunft hat Goethe noch beschäftig­t, als er seinen Lebensberi­cht »Dichtung und Wahrheit« schrieb. Da war er schon Anfang sechzig. Vom Großvater, der fast zwei Jahrzehnte tot war, als er geboren wurde, wusste er so gut wie nichts, aber er erinnerte sich an die Miniatur, die er gesehen hatte. Er bildete sich ein, sie habe einen Herrn »in Uniform mit Stern und Orden« gezeigt, und in seinem »kindischen Kopfe« schuf er sich einen Großvater, der ein bedeutende­r, hochgestel­lter Mann gewesen sein muss.

Man hat Friedrich Georg Göthé, sagen die Autoren, nicht einfach vergessen oder übersehen. Er wurde in den Hintergrun­d gedrängt vom Sohn, der ihm alles verdankte, zwei Häuser (die er repräsenta­tiv zu einem umbauen ließ), Grundstück­e, das enorme Vermögen, die Bildung. Das erstaunlic­he, großartig recherchie­rte (und bibliophil ausgestatt­ete) Buch gibt ihm das verschwieg­ene Ansehen zurück. Es ist die späte, verdiente und furiose Ehrenrettu­ng des gewieften und tüchtigen Mannes, dem noch der Enkel den glänzenden Start ins Leben verdankte.

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng: Monsieur Göthé. Goethes unbekannte­r Großvater. Die Andere Bibliothek, 420 S., geb., 42 €.

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Foto:akg-images/J. Raible Ohne Monsieur Göthé hätte es Johann Wolfgang von Goethe, der heute vor 268 Jahren geboren wurde, nicht gegeben. Hier: Goethe in Marmor

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