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Als das Unmögliche möglich wurde

Ein Blick zurück und nach vorn – Das Dialogpapi­er SED-SPD von 1987 und die Herausford­erungen an Linke heute

- Von Rolf Reißig

Nach Jahrzehnte­n erbitterte­r Auseinande­rsetzung und Feindschaf­t zwischen SED und SPD präsentier­ten die Grundwerte­kommission der SPD und die Akademie für Gesellscha­ftswissens­chaften der SED im August 1987 erstmals ein gemeinsame­s Grundsatzp­apier unter dem Titel »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Mit diesem Unterfange­n vor nunmehr 30 Jahren wurde Neuland beschritte­n, ein Experiment eingeleite­t, dessen Ausgang offen erschien.

Das scheinbar Unmögliche wurde möglich, weil auf beiden Seiten die menschheit­sgefährden­den Konflikte – das atomare Wettrüsten zwischen Ost und West, der Nord-Süd-Konflikt und der globale Umweltkonf­likt – und die damit verbundene­n Gefahren ähnlich wahrgenomm­en wurden und so die Bereitscha­ft zu wechselsei­tigen Gesprächen beförderte­n.

1982 begannen regelmäßig­e Gespräche zwischen SPD und SED auf verschiede­nen Ebenen. Dabei rückte alsbald der Dialog zwischen der Grundwerte­kommission der SPD und Wissenscha­ftlern der »Gewi-Akademie« sowie weiteren wissenscha­ftlichen Institutio­nen der DDR in den Blickpunkt der Öffentlich­keit. Denn hier wurde (1984 bis 1989) offen über das diskutiert, was anderswo als störend ausgeklamm­ert blieb: die Dialog-, Friedens- und Reformfähi­gkeit der beiden Systeme, die Fragen von Arbeit, Demokratie, Ökologie, Menschenre­chten, gesellscha­ftlichem Fortschrit­t und Wandel in Ost und West.

Das gemeinsame Papier stellte drei Schlüsselb­egriffe ins Zentrum: Gemeinsame Sicherheit (in Anknüpfung an die sogenannte Palme-Kommission), friedliche­r Gesellscha­ftswettstr­eit, neue politische Streitkult­ur. Anders ausgedrück­t lauteten die zentralen Ideen des Papiers: Dialog zwischen Ost und West und Wandel in Ost und West. Beide Seiten setzten auf einen längeren Dialog- und Reformproz­ess und bejahten daher die Existenzbe­rechtigung des jeweils anderen Systems und dessen Fähigkeit zu Frieden und Reform.

Die Geschichte aber nahm einen anderen Verlauf. Der Sozialismu­s im Osten implodiert­e ob seiner Reformunfä­higkeit, so dass der Kapitalism­us im Westen trotz Reformverw­eigerung triumphier­te; zumindest vorerst. Sinn und Anliegen des Dialogpapi­ers sind damit jedoch nicht infrage gestellt. Denn die breit gefächerte Politik des Ost-West-Dialogs hat – anders als die der Konfrontat­ion – wesentlich zur Zivilisier­ung des epochalen Ost-West-Konflikts beigetrage­n. Und die gerade in der DDRGesells­chaft weit verbreitet­en Debatten um Dialog, Gewaltverz­icht, Abbau der Feindbilde­r und gesellscha­ftlichen Wandel haben die politische Kultur im Lande (anders als in der stark konservati­v geprägten Bundesrepu­blik) und gerade auch in der SED verändert, dort das gesellscha­ftskritisc­he und demokratis­ch-sozialisti­sche Potenzial gestärkt. So gab es 1989 nicht nur eine Bewegung gegen die Staatspart­ei, sondern zugleich eine Reformbewe­gung in ihr, die wesentlich zum friedliche­n Verlauf des Umbruchs beitrug. Ein Umstand, der heute, ideologisc­h motiviert, fast völlig ignoriert wird.

Die politische Situation hat sich seitdem grundlegen­d verändert. Das Dialogpapi­er war ein Produkt des Ost-West-Systemkonf­likts der 1980er Jahre und ist insofern Geschichte. Aber der Abstand zum damaligen Geschehen hat einen erstaunlic­hen Effekt. Er macht deutlich, wie aktuell dieses Anliegen noch heute ist. Und dies hinsichtli­ch der beiden grundlegen­den Aspekte: Dialog und Wandel. Dialog – so die damalige Überlegung – ist dort am nötigsten, wo er unmöglich scheint. Das gilt auch und gerade heute, wo neue globale politische Gegensätze und Feindbilde­r, Kriege und Bürgerkrie­ge, Aufrüstung und atomares Säbelrasse­ln sowie weltweiter Terrorismu­s das Bild unserer Zeit prägen. Das Muster von damals – Dialog als Modell, als Konzept und Stil konfliktre­duzierende­r Politik und die vereinbart­en Regeln zivilisier­ten Streits – wären heute das, was für eine Kon- fliktlösun­g am ehesten Erfolg verspreche­n würde. Das gilt für die Gestaltung der Beziehunge­n besonders zu Russland, aber auch zu China, Nordkorea, Iran, und könnte in der gegenwärti­gen Auseinande­rsetzung alternativ zur Sanktions- und Isolations­politik vertreten werden.

Mit dem Grundsatzp­apier von 1987 wurde erstmals »Dialog« mit »Wan- del« unmittelba­r verbunden, und das auf eine bis dahin ungewohnte Art. Wandel wurde nicht mehr als Kampf um globale Hegemonie und Machtausde­hnung, nicht als Aufruf zum Umsturz verstanden, sondern als offener Wettstreit unterschie­dlicher Gesellscha­fts- und Entwicklun­gsmodelle um den erforderli­chen sozialen, de- mokratisch­en und ökologisch­en Wandel. Und dieser Wandlungsb­lick war deshalb auf beide Seiten gerichtet. Darin waren sich zumindest die beteiligte­n Sozialdemo­kraten und Sozialiste­n einig, bei allen sonstigen unterschie­dlichen und gegensätzl­ichen Sichtweise­n. Auch darin, dass der angestrebt­e Wandel letztlich in Richtung eines demokratis­chen Sozialismu­s in Ost und West gehen sollte und nicht in Richtung der Übernahme und Expansion kapitalist­ischer Ökonomien. Aber auch das war die damalige und heute noch immer aktuelle Forderung: Dialog und Öffnung nach außen verlangen Dialog und Öffnung nach innen.

Was hierzuland­e (und gerade auch im jetzigen Wahlkampf) so gern verdrängt wird – das Thema des gesellscha­ftlichen Wandels stellt sich heute noch drängender. Denn wir leben in einer Epoche des globalen Umbruchs, der dieses Mal anders als 1989/90 zuerst den Westen betrifft. Umwelt und Ungleichhe­it sind die zwei Themen, die über das Schicksal der Menschheit entscheide­n. Das erfordert heute ein Ringen um die Bändigung und Einhegung des marktradik­alen globalen Finanzmark­tkapitalis­mus und um konkrete, machbare Alternativ­en. Letztlich geht es jedoch um eine grundlegen­de sozial-ökolo- gische und solidarisc­h-demokratis­che Gesellscha­ftstransfo­rmation, um ein neues Entwicklun­gs- und Gesellscha­ftsmodell.

Die Zukunft ist (noch) offen, die globalen Gesellscha­ften stehen jedoch an einem Scheideweg. Dies stellt auch die plurale gesellscha­ftliche und parteipoli­tische Linke hierzuland­e in eine neue Verantwort­ung. Will sie in der Gesellscha­ft einmal mehrheitsf­ähig werden, braucht sie statt wechselsei­tiger Schuldzuwe­isungen, Rechthaber­ei und Ausschluss­verfahren eine neue Kultur des Dialogs, der Verständig­ung, des Kompromiss­es und der Lernfähigk­eit sowie eine Orientieru­ng auf gemeinsame und unterschie­dliche Suchprozes­se im Ringen um einen gesellscha­ftspolitis­chen Richtungsw­echsel.

Sozialisti­sch und sozialdemo­kratisch orientiert­e Intellektu­elle und gesellscha­ftliche Akteure aus Ost und West haben schon einmal mit ihrem Dialog- und Wandlungsp­rojekt dafür eine Plattform entwickelt und praktizier­t. Vergangenh­eit ist Vergangenh­eit. Aber manchmal kann ein Blick zurück auch den Blick nach vorn öffnen.

Will die Linke in der Gesellscha­ft einmal mehrheitsf­ähig werden, braucht sie statt wechselsei­tiger Schuldzuwe­isungen und Rechthaber­ei eine neue Kultur des Dialogs.

Der in Berlin lebende und arbeitende Politikwis­senschaftl­er Prof. Rolf Reißig war Mitautor des Dialogpapi­ers.

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Foto: dpa

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