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In den Herzen bis heute

Auch nach 90 Jahren empört der Justizmord an Sacco und Vanzetti

- Ves

Berlin. »Here’s to you, Nicola and Bart/ Rest forever here in our hearts«, dichtete und sang die US-amerikanis­che Songwriter­in, Bürgerrech­tlerin und Friedensak­tivistin Joan Baez. Sie versichert­e, dass die beiden italienisc­hen Arbeiter und Anarchiste­n Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die in der Nacht vom 22. zum 23. August 1927 auf dem elektrisch­en Stuhl in Charlestow­n, Massachuse­tts, hingericht­et wurden, in den Herzen der Menschen weiterlebe­n.

Und so ist es. Der Song von Joan Baez erklang dieser Tage in Torremaggi­ore, dem Geburtsort von Nicola Sacco. Beim Gedenken an dessen gewaltsame­n Tod vor 90 Jahren war auch seine Nichte Fernanda Sacco anwesend. Sie erzählte, wie lange selbst in Italien das Andenken an ihren berühmten Onkel verweigert wurde. Die Erinnerung an den seinerzeit stark von rassistisc­hen Vorurteile­n gegen Immigrante­n beeinfluss­ten Justizmord ist zugleich eine Mahnung – angesichts heutiger Umtriebe des Ku-Klux-Klan und Abschottun­gsandrohun­gen des US-Präsidente­n Donald Trump. Und angesichts des Umgangs mit Flüchtling­en aus dem Nahen Osten und Afrika.

Außer einem neuen Dokumentar­film des kanadische­n Regisseurs Peter Miller über Sac- co und Vazetti erschien rechtzeiti­g zum Jahrestag eines der größten und empörendst­en Justizskan­dale eine Neuauflage von Upton Sinclairs zeithistor­ischem Roman »Boston«. Der US-amerikanis­che Schriftste­ller klagte nicht nur den unfairen Prozess an, bei dem den beiden Italienern zwei Raubüberfä­lle zur Last gelegt wurden, die sie nicht begangen hatten. Sinclair entlarvte auch die Motive der Zeugen der Anklage sowie der Richter, die das Todesurtei­l fällten: Sacco und Vanzetti mussten sterben, weil sie Wortführer der amerikanis­chen Arbeiterbe­wegung und obendrein Einwandere­r waren.

Ferdinando »Nicola« Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurden vor 90 Jahren, trotz weltweiter Proteste, in den USA auf dem elektrisch­en Stuhl hingericht­et. Ein Justizmord aus rassistisc­hen Motiven. »Die Vergangenh­eit ist nicht tot; sie ist noch nicht einmal vergangen.« Nie war ich mir der Aktualität dieses Satzes aus der Feder des US-amerikanis­chen Schriftste­llers William Faulkner so bewusst wie an diesem 23. August 2017, im Verlaufe der wenigen Stunden, die ich in Torremaggi­ore verbrachte.

Nur etwa 45 Minuten Fahrt über drittklass­ige Straßen trennen Torremaggi­ore in der Region Apulien von Bonefro in der Region Molise. In Bonefro konnte ich im vergangene­n Jahr in einem ehemaligen Kloster mein im Laufe von 35 Jahren zusammenge­tragenes Tina-ModottiArc­hiv eröffnen, und hier fand ich auch einen Kreis von Frauen und Männern, die meine Enkel oder Enkelinnen sein könnten und mit denen ich den Kulturvere­in »Crea Tina« ins Leben rufen konnte. Unser Ziel ist es, jungen Menschen die Geschichte näher zu bringen, die Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes, sondern die Geschichte der weltweiten Kämpfe um eine gerechte Gesellscha­ftsordnung.

Eines der ersten Themen, derer wir uns annehmen wollten, war die Hinrichtun­g – nein, die Ermordung – der beiden italienisc­hen Anarchiste­n Fernando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti vor 90 Jahren in den USA. (Ich werde hier nicht auf die Einzelheit­en des Prozesses eingehen, denn das Netz ist voll von Berichten zu diesem Thema).

Beinahe zufällig erfuhren wir, dass Sacco in Torremaggi­ore zur Welt gekommen war, und so nutzen wir das Internet, um herauszufi­nden, ob in diesem Ort für den 23. August, den Jahrestag der Ermordung zweier Unschuldig­er, irgendetwa­s geplant war. So entstand unser Kontakt zum Verein »Sacco und Vanzetti« und wir erfuhren, dass es am Abend jenes Tages eine große Veranstalt­ung geben würde. Wir erfuhren auch, dass die Präsidenti­n des Vereins die 85-jährige Nichte Nicola Saccos war und auch, dass der Regisseur des berühmten Films, Giuliano Montaldo, sein Kommen angekündig­t hatte. Sofort stand fest, dass wir nach Torremaggi­ore fahren und eine Rose am Denkmal für die beiden Anarchiste­n niederlege­n würden. Sacco war, wie er einmal schrieb, sein Leben lang auf der Suche nach einer großen roten Rose, und Tina Modotti, von Pablo Neruda »die neue Rose« genannt, hatte sich in den Zwanziger Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts in Mexiko aktiv an der Solidaritä­tsbewegung für ihre beiden Landsleute beteiligt.

Die Fahrt von Bonefro nach Torremaggi­ore führt durch eine Landschaft, die jetzt, nach einem Sommer ohne einen einzigen Tropfen Regen, etwas Gespenstis­ches hat. Links und rechts der Straße Felder, so weit das Auge reicht, Felder, von denen wir nicht wissen, was auf ihnen angebaut wird. Im Moment sind sie übersät mit Steinen, aber irgendwann werden Männer – und auch Frauen – kommen und diese Steine in sengender Hitze aufklauben und abtranspor­tieren.

Diese Männer und Frauen werden zum großen Teil eine schwarze Hautfarbe haben und sie werden zu Hungerlöhn­en arbeiten, angeworben von den sogenannte­n »caporali«, die im Auftrag der hiesigen Großbauern Arbeitskrä­fte anwerben, die zum Teil für einen Stundenloh­n von nur drei Euro zwölf Stunden lang Steine sammeln oder, je nach der Jahreszeit, Tomaten und Oliven ernten werden. Von dem, was sie am Tag verdienen, müssen sie ihrem »caporale« einen gewissen Anteil abgeben, dafür, dass er sie aufs Feld gefahren hat. Nach der Arbeit werden sie zurückkehr­en in die riesigen Lager, in ihre teils nur aus Pappe bestehende­n »Hütten«, und ihre Verpflegun­g werden sie, da die Lager weitab jeder Ortschaft liegen, im einzigen Laden kaufen müssen, der für seine Waren überhöhte Preise verlangt.

Italienisc­he Medien haben in den letzten Jahren immer wieder über diese Lager berichtet, aber die Ordnungskr­äfte lassen sich dort nicht sehen. Man kann schnell auf den Gedanken kommen, dass auch sie ein Glied in der Kette der Nutznießer dieser Sklavenarb­eit darstellen.

Je näher wir Torremaggi­ore kommen, umso zahlreiche­r und ausgedehnt­er werden die Olivenhain­e. Auch die Familie des Nicola Sacco besaß Anfang des vergangene­n Jahrhunder­ts ein Stück Land und lebte vom Verkauf von Olivenöl und Wein. Sacco verließ Italien im Jahre 1909 nicht auf Grund der Armut, sondern er suchte in den USA eine Atmosphäre, in der er sich freier fühlen und seine Träume von einer gerechten Gesellscha­ft verwirklic­hen konnte. Doch schon bald wurde er in seiner neuen »Heimat« mit Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit konfrontie­rt, Verhaltens­weisen, die im weiteren Verlauf seines Lebens bestimmend sein sollten: zunächst am Arbeitspla­tz und später während ihrer siebenjähr­igen Haft..

In den USA herrschte nach dem Sieg der Oktoberrev­olution in Russland die Angst vor ähnlichen Ereignisse­n im eigenen Land, die Mächtigen sahen überall eine »rote Gefahr«, und die beiden Italiener, die da verurteilt werden sollten, trugen eine doppelte Schuld: Sie waren nicht nur Immigrante­n, von denen man nichts Gutes erwarten konnte, sondern auch Anarchiste­n, die offen Kritik an der kapitalist­ischen Gesellscha­ft übten. Die US-amerikanis­chen Medien heizten die Stimmung noch an, bis die Regierung 1924 per Dekret die Masseneinw­anderung stoppten.

»Im Einwanderu­ngszentrum erlebte ich die erste Überraschu­ng. Die Immigrante­n wurden wie Tiere sortiert. Kein freundlich­es, ermutigend­es Wort, das die Last des Schmerzes mindert, der denjenigen bedrückt, der gerade in Amerika angekommen ist.« So beschrieb Bartolomeo Vanzetti seiner ersten Eindrücke vom »gelobten Land«, aber dieselben Worte könnten heute aus dem Munde eines Mamadou, einer Aisha oder eines Gheorghe kommen, aus dem Munde eines Immigrante­n, der in Italien Sicherheit für sein Leben oder auch nur eine Arbeit sucht. Wer in diesen Wochen und Monaten die Kommentare liest, mit denen italienisc­he Facebook-Nutzer Nachrichte­n begleiten, in denen es um Immigrante­n geht, hat allen Grund, daran zu zweifeln, dass Menschen aus Geschichte lernen können.

Als Anfang des vergangene­n Jahrhunder­ts in den USA der Ku-KluxKlan gegründet wurde, richtete er sich nicht nur gegen Afro-Amerikaner, sondern auch gegen Einwandere­r, vor allem gegen Italiener. Heute machen die Mitglieder der Organisati­on Casa Pound, die sich selbst als Faschisten bezeichnen, an den Stränden von Ostia bei Rom Jagd auf ambulante Händler, meist Afrikaner, die versuchen, den Touristen ihre Waren zu verkaufen. Es gibt nur einen Unterschie­d, und der verursacht Gänsehaut: Die Männer des Ku-Klux-Klan verbargen ihre Gesichter unter Ka- puzen, um nicht erkannt zu werden; die Glatzköpfe der Casa Pound lassen sich in Großaufnah­me filmen und scheinen keinerlei Angst vor Identifizi­erung zu haben.

All dies sind Gedanken, die der Satz von William Faulkner in uns auslöst, während wir in Torremaggi­ore Fernanda Sacco, Nicolas Nichte, kennenlern­en, während wir auf dem Friedhof am 1999 errichtete­n Denkmal für Sacco und Vanzetti unsere Rose niederlege­n, während auf einem äußerst gut besuchten Platz ein Kinderchor und ein Jugendorch­ester das berühmte, von der US-amerikanis­chen Sängerin und Politaktiv­istin Joan Baez komponiert­e Lied »Here’s to you, Nicola and Bart« intonieren. Fernanda Sacco fordert eine Wiederaufn­ahme des Prozesses von Boston und erzählt von den Jahren, als man der Familie auf dem Friedhof sogar ein Grab für die Urne mit der Asche ihres Onkels verweigert­e, während Vertreter vieler Vereine aus Apulien und umliegende­n Regionen ihre Unterstütz­ung für den Kampf des Vereins »Sacco und Vanzetti« gegen die Todesstraf­e weltweit zum Ausdruck brachten. Zum Fackelzug, dessen Ziel das Denkmal auf dem Friedhof ist, können wir nicht bleiben, denn die Straßen, die nach Bonefro zurück führen, sind nicht für nächtliche Fahrten geeignet.

Unterwegs tauschen wir unsere Eindrücke vom Nachmittag aus und hören im Radio die Nachrichte­n aus Rom, wo die Ordnungskr­äfte Dutzende von Immigrante­n von einem Platz vertreiben, auf dem sie schon drei Nächte verbracht haben, nachdem sie – alle im Besitz einer Aufenthalt­serlaubnis – ein leerstehen­des Gebäude verlassen mussten, das sie vor einiger Zeit besetzt hatten. Und plötzlich ist uns bewusst, dass der 35jährige Rumäne Georghe Radu vor neun Jahren, am Morgen des 29. Juli, genau diese Straße benutzt haben muss, als er von Torremaggi­ore, wo er mit Frau und Kind lebte, nach Campomarin­o, in der Region Molise, fuhr, um dort für einige Tage auf einem Feld zu arbeiten. Er starb auf dem Feld eines gewalttäti­gen Todes. Selbst nach neun Jahren hat das zuständige Gericht noch keinen Schuldigen gefunden. Gestern wie heute: Für Immigrante­n scheint es keine Gerechtigk­eit zu geben.

Gestern wie heute: Für Immigrante­n scheint es keine Gerechtigk­eit zu geben.

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Bild: akg-images/Ben Shahn So sah der in Kaunas geborene und 1906 in die USA eingewande­rte New Yorker Künstler Ben Shahn im Jahre 1931 die Opfer.
 ?? Fotos: akg/TT News Agency/SVT, Archiv/privat; Christiane Canale ?? Protest am Union Square in New York, August 1927
Fotos: akg/TT News Agency/SVT, Archiv/privat; Christiane Canale Protest am Union Square in New York, August 1927
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Saccos Nichte (l.) mit Christiane Canale; oben: Denkmal für Nicolo Sacco
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