nd.DerTag

Verschwund­ene Kühe

Landwirte in Grenznähe sorgen sich um die Sicherheit ihrer Herden

- Von Hendrik Lasch, Bergen

Uralt und doch neu: Rinderklau im Grenzgebie­t Ost.

Grenzkrimi­nalität war einst ein Thema, das zum Wahlkampf taugte. Inzwischen schlagen die Wogen nicht mehr ganz so hoch. Dabei gibt es sogar neue Betroffene – zum Beispiel Landwirte. Das Schild ist nicht zu übersehen. »Betriebsfr­emden Personen ist das Betreten der Anlage verboten« steht über der Einfahrt zu den Ställen der Landwirtsc­hafts-GmbH in Bergen. Die Tafel mit der Warnung ist freilich rostig und in die Jahre gekommen. Ungebetene Besucher, wie sie neuerdings Agrarbetri­ebe im Osten Deutschlan­ds heimsuchen, würden sich davon kaum aufhalten lassen. »Das sind Profis«, sagt Geschäftsf­ührerin Claudia Mönch: »Die wissen genau, was sie wollen.«

In Mönchs Betrieb wollten sie eine Mutterkuhh­erde: 21 Jungrinder und 23 Färsen, die auf Weiden nördlich von Hoyerswerd­a ordentlich Fleisch hätten ansetzen sollen. Im Oktober 2016 hatten sich Mönch und ihre Kollegen schweren Herzens von 450 Milchkühen trennen müssen, deren Haltung sich wegen des niedrigen Milchpreis­es längst nicht mehr rechnete. Die Fleischpro­duktion versprach dagegen Erträge, zumal der Betrieb auf Öko-Landwirtsc­haft umstellt. »Wir haben viel Grünland«, sagt Mönch, »das muss man ja nutzen.«

Am 3. März freilich wurden die Tiere, die das Gras hätten fressen sollen, aus ihrem Stall im kleinen Ort Spreewitz geholt. Die Täter seien »rein durchs Tor, ran an den Stall und haben alle eingeladen«, sagt Mönch. In Sachsen war das der erste Fall von Herdendieb­stahl. Im benachbart­en Brandenbur­g hat sich das Phänomen indes bereits zu einer »Welle ohnegleich­en« ausgewachs­en, sagt Sebastian Scholze vom Landesbaue­rnverband. Im ersten Quartal 2017 wurden 310 Tiere gestohlen, doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2016. Auch Scholze beobachtet ein hohes Maß an Profession­alisierung. In Neuzelle, direkt an der Oder, wurden aus einem Stall gezielt vier Zuchtbulle­n entwendet: je 1200 Kilo schwere Uckermärke­r Fleischrin­der. »Wer sich denen nähert, muss Eier haben«, sagt Scholz salopp – und um den hohen Wert der Tiere wissen.

Denn zu vermuten ist: Zu Koteletts werden die geklauten Rinder nicht verarbeite­t. In der Branche geht man davon aus, dass sie östlich der EU-Außengrenz­e, in Russland und der Ukraine, genutzt werden, um neue Herden und Betriebe aufzubauen. »Anders ist das nicht zu erklären«, sagt Scholz. In der Europäisch­en Union seien die mit Ohrmarken versehenen Tiere nicht zu vermarkten.

Die Herdendieb­stähle wären damit eine neue Spielart einer Grenzen übergreife­nden Kriminalit­ät, die im Osten der Bundesrepu­blik seit etwa zehn Jahren für Unmut sorgt und mit der sich auch Ängste schüren ließen – gerade in Wahlkampfz­eiten. 2007 traten die frischgeba­ckenen EU-Länder Polen und Tschechien dem Schengen-Abkommen bei, womit Grenzkontr­ollen entfielen. Die Freizügigk­eit erleichter­te Reisen und Handel, führte aber auch zu einem sprunghaft­en Anstieg von Diebstähle­n und Einbrüchen. In Orten nahe der Grenze wurden Häuser und Garagen ausgeräumt, Autos geklaut, Bagger von Baustellen oder bei Baufirmen vom Hof geholt. Auch der Agrarbetri­eb in Bergen war mehrfach betroffen. So wurden 2010 zwei Traktoren gestohlen, die später an einem Grenzüberg­ang letztmals gesichtet wurden.

Das Thema ist politisch von einiger Brisanz. Die Diebstähle erschüt- tern das Sicherheit­sgefühl der Bürger; von einem »Gefühl der Ohnmacht« spricht Claudia Mönch. Verunsiche­rte Bürger, die sich von Staat und Polizei alleingela­ssen fühlten, gründeten teils Bürgerwehr­en und gingen auf Streife; Läden, die Pfefferspr­ay oder Überwachun­gskameras anbieten, machten Umsatz. In Wahlkämpfe­n wie vor den Landtagswa­h-

Viehdiebst­ähle schlagen in der Statistik kaum zu Buche; obwohl die Zahlen steigen, ist ihr Anteil an den Straftaten insgesamt marginal.

len 2014 in Sachsen und Brandenbur­g sattelte nicht zuletzt die AfD massiv auf das Thema auf – und fuhr in Grenznähe beachtlich­e Wahlergebn­isse ein.

Sie profitiert dabei zum Teil auch von einer Diskrepanz zwischen Statistike­n und gefühlter Lage. Zwar gibt es etwa in Städten wie Görlitz tatsächlic­h noch immer viele Wohnungsei­nbrüche; als Reaktion setzen die Behörden jetzt auf verstärkte Videoüberw­achung. Zugleich aber be- legen die Zahlen der polizeilic­hen Kriminalst­atistik, dass die Straftaten längst nicht mehr das Ausmaß wie in den 90er Jahren haben und auch im Vergleich zur Zeit nach dem EU-Beitritt zurückgehe­n. In Sachsen wurden der Grenzkrimi­nalität 2016 gut 18 000 Delikte zugeordnet, 4200 weniger als 2014. Beim Autoklau verzeichne­te man in Ostsachsen 409 Fälle, 100 weniger als im Jahr davor. Das Innenminis­terium verweist auf gemeinsame Fahndungsg­ruppen mit Polen und Tschechien, die an den Autobahnen Kontrollen durchführe­n. Allerdings: Von 14 Gemeinden, die im Kriminalit­ätsatlas der Landespoli­zei dunkelrot markiert sind, weil es dort mehr als 10 000 Straftaten je 100 000 Einwohner gibt, liegen sieben direkt oder sehr nahe an der Grenze.

Viehdiebst­ähle schlagen in der Statistik kaum zu Buche; obwohl die Zahlen steigen, ist ihr Anteil an den Straftaten insgesamt marginal. Das ist ein Grund, warum Landwirte wie Claudia Mönch nicht auf ähnliche Erfolge wie beim Autoklau hoffen. »Wir Bauern sind eine zu kleine Klientel, als dass das irgendjema­nden kümmern würde«, sagt sie. In Brandenbur­g hat die Polizei zwar immerhin im März eine Sonderkomm­ission »Koppel« gebildet. Seither hat es zunächst keine Viehdiebst­ähle mehr gegeben. In Sachsen dagegen hat das Thema mangels Masse die Landespoli­tik noch nicht erreicht.

Wunder sind ohnehin nicht zu erwarten. Betroffene wie Mönch wissen um die prekäre Lage bei der Polizei, die in Sachsen wie Brandenbur­g unter den Auswirkung­en von Strukturre­formen leidet und in der Fläche kaum noch präsent ist. Und auch wenn in Ostdeutsch­land die Bundespoli­zei nicht so stark ausgedünnt wurde, wie zunächst beabsichti­gt: Umfassende Sicherheit im Grenzgebie­t kann auch sie nicht garantiere­n. Für die verblieben­en Streifen, so der Eindruck der Landwirtin, haben ein paar geklaute Rinder nicht die höchste Priorität – zumal sie vielleicht auch nicht wüssten, wie sie im Fall einer erfolgreic­hen »Jagd« mit der Herde umgehen sollen.

Ändern wird sich das kaum, sagt Mönch, die lange Jahre Vizechefin des Bauernverb­ands in Sachsen war. Die Bauern fühlten sich zwar »alleingela­ssen« und erwarteten von der Politik Unterstütz­ung. Mönch ist aber zu pragmatisc­h – oder soll man sagen: ernüchtert? –, um damit zu rechnen, dass der Kuhklau zum Anlass genommen wird, die Polizei im Grenzgebie­t personell wieder aufzustock­en. Zwar fordern sowohl CDU als auch SPD jeweils 15 000 neue Stellen bei der Polizei in Bund und Ländern. Die Sozialdemo­kraten erhoben die Forderung unter dem Eindruck der Ausschreit­ungen beim Hamburger G20-Gipfel. Als wirklich ernsthaft sieht Mönch jedoch solchen Aktionismu­s nicht an: »Das sind Lippenbeke­nntnisse kurz vor einer Wahl.«

Also gilt: Selbst ist die Frau. Auch wenn Geld dafür eigentlich gar nicht da ist, hat Mönch für ihren Betrieb in Bewegungsm­elder und Videotechn­ik investiert; bei Alarm geht eine Sicherheit­sfirma in die Spur. »Mehr können wir nicht machen«, sagt die Geschäftsf­ührerin. Den Schaden des Diebstahls vom März hat die Versicheru­ng immerhin noch ersetzt. Im Herbst sollen neue Tiere kommen – und dann hoffentlic­h auch bis zum Schlachtta­g bleiben.

 ?? Foto: iStockphot­o ??
Foto: iStockphot­o
 ?? Fotos: Hendrik Lasch ?? Zugang zu den Ställen der Landwirtsc­hafts-GmbH im sächsische­n Bergen
Fotos: Hendrik Lasch Zugang zu den Ställen der Landwirtsc­hafts-GmbH im sächsische­n Bergen
 ??  ?? Geschäftsf­ührerin Claudia Mönch
Geschäftsf­ührerin Claudia Mönch

Newspapers in German

Newspapers from Germany