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Corbyn entmachtet Brexit-Gegner

Exit-Befürworte­r aus Gewerkscha­ften und Labour-Partei fordern weiter linken EU-Austritt

- Von Christian Bunke, Manchester

Anders als vor dem Referendum erhält das linke Pro-Brexit-Lager derzeit erhöhte Aufmerksam­keit in Großbritan­nien. Denn im Fall von Neuwahlen könnte mit Corbyn ein EU-Gegner Regierungs­chef werden. »Ist sozialisti­sche Planung mit dem gemeinsame­n Markt kompatibel?« Diese Frage möchte die Gruppierun­g »Gewerkscha­fter gegen die EU« auf einer Veranstalt­ung am Rande des Kongresses des britischen Gewerkscha­ftsbundes TUC am 11. September in Brighton diskutiere­n. Man kann davon ausgehen, dass die Antwort aus der Sicht der Anti-EU-Gewerkscha­fter »nein« heißen wird. Doch die Mehrheit der britischen Gewerkscha­ftsspitzen geht in eine andere Richtung. Die Führungen der großen Gewerkscha­ften und die dominieren­den Kräfte im Gewerkscha­ftsbund TUC fordern einen Verbleib Großbritan­niens im gemeinsame­n Markt. Nur so könnten Arbeitsplä­tze und gewerkscha­ftliche Rechte gewährleis­tet werden, lautet die Argumentat­ion.

Ironischer­weise leistet derzeit die Nahrungsmi­ttelgewerk­schaft BFAWU, eine der wenigen Gewerkscha­ften die sich für den Brexit positionie­rt hat, die erfolgreic­hste Arbeit in der Rekrutieru­ng und Integratio­n osteuropäi­scher Arbeitnehm­er. Gerade als Austrittsb­efürworter­in fordert sie das Bleiberech­t für die in Großbritan­nien lebenden EU-Ausländer ein. Diese Forderung wird vom gesamten linken Brexit-Lager aufgestell­t.

Sowohl die EU-Gegner als auch die EU-Befürworte­r werden genau hinhören, wenn Jeremy Corbyn in der Rolle als Labour-Parteichef seine Gastrede auf dem TUC-Kongress halten wird. Für ihn ist es einmal mehr eine Chance, sein linkes Programm mit jenem der regierende­n Tories zu kontrastie­ren und um Unterstütz­ung aus der Gewerkscha­ftsbewegun­g zu werben. Doch eine spannende Frage wird sein, wie sich Corbyn zum Brexit und zur Position der Labour Partei in dieser Frage äußern wird.

Es ist eine alles andere als fertige Position. Die Mehrheit der LabourFrak­tion im Londoner Unterhaus steht für den weichest möglichen Brexit mit Verbleib Großbritan­niens im gemeinsame­n Markt. Damit ginge auch eine Beibehaltu­ng der seit Thatcher auf der Insel institutio­nalisierte­n neoliberal­en Politik einher.

Doch Corbyn hat sich in den vergangene­n Wochen wieder seiner traditione­llen EU-skeptische­n Haltung angenähert. Ende Juli warf er sechs Abgeordnet­e aus seinem Schattenka­binett und verbannte sie somit von der Frontbank der Opposition­sseite im Unterhaus. Der Grund: Die sechs hatten einen – von insgesamt 51 Labour-Abgeordnet­en gestellten – Ergänzungs­antrag zum Brexit-Gesetzentw­urf der Regierung unterstütz­t, der einen Verbleib Großbritan­niens im gemeinsame­n Markt fordert. In Fernsehint­erviews tritt Corbyn seitdem gegen den Verbleib im gemeinsame­n Markt auf.

Die großen sozialen Auseinande­rsetzungen auf der Insel der vergangene­n Wochen hatten oberflächl­ich nichts mit dem Brexit zu tun. Bei den Streikbewe­gungen von Müllleuten in Birmingham, Reinigungs­kräften in London, Assistenzl­ehrern in Durham oder dem Kabinenper­sonal bei British Airways ging es um Niedriglöh­ne, Arbeitszei­ten und Prekarisie­rung. Das gewerkscha­ftslinke National Shop Stewards Network NSSN mobilisier­t mit der Forderung nach Lohnerhöhu­ngen im öffentlich­en Dienst zum TUC-Kongress. Und bei der Großdemons­tration gegen den Parteitag der regierende­n Konservati­ven in Manchester am 1. Oktober geht es um den Kampf gegen Einsparung­en und Privatisie­rungen beim staatliche­n Gesundheit­swesen NHS.

Und doch ist der Brexit im Hintergrun­d stets präsent. Die derzeit stattfinde­nden Streiks sind Ausdruck derselben Stimmungsl­age, die dafür sorgte, dass alle Industrier­egionen Englands für den Brexit stimmten. Eine Stimmungsl­age, wonach fast 40 Jahre neoliberal­e Politik in Großbritan­nien genug seien und es nun Zeit für einen grundlegen­den Politikwec­hsel sei.

Dieselbe Stimmungsl­age spülte Jeremy Corbyn an die Spitze der Labour Partei und sorgte dafür, dass er allen Putschvers­uchen des rechten Parteiflüg­els zum Trotz immer noch an der Spitze seiner Partei steht und diese sogar in eine kommende Re- gierung führen könnte. Im Fall eines Labour Siegs nach nicht auszuschli­eßenden Neuwahlen könnte Corbyn als Premiermin­ister für die Austrittsv­erhandlung­en aus der EU verantwort­lich sein. Großbritan­nien hätte dann einen linken EU-Gegner als Regierungs­chef. Deshalb wird linken Anti-EU-Positionen in Zeitungen wie »Independen­t«, »Guardian« oder selbst der »Financial Times« derzeit ein Raum zugestande­n, der ihnen im Vorfeld der EU-Referendum­s verweigert wurde.

Natürlich steckt in diesem Szenario auch ein Risiko. Das verdeutlic­hen die Erfahrunge­n, die die griechisch­e Syriza-Regierung mit den EUVerhandl­ungen gemacht hat. Ein linker EU-Austritt, aber auch der Versuch eines linken britischen Regierungs­projektes innerhalb der EU wird auf harten Widerstand der »Institutio­nen« stoßen.

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Foto: iStock/RBOZUK Fertig ist diese Kiste noch lange nicht.

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