nd.DerTag

Aus Kabul ins duale System

Zwei junge Afghaninne­n zeigen, wie gut Integratio­n in der Hauptstadt gelingen kann

- Von Martin Kröger

Tausende junge Geflüchtet­e sind seit 2015 nach Berlin gekommen. Viele wollen schnell anfangen, zu arbeiten, obwohl eine Ausbildung auf lange Sicht mehr Chancen bietet. Sie schaffen das. Sahar Abdulqasem, 18 Jahre, und ihre Schwester Sara, 17 Jahre, sind erst zwei Jahre in Berlin. In der kurzen Zeit haben sie bereits Deutsch gelernt, einen Schulabsch­luss gemacht und die ersten Berufserfa­hrungen gesammelt. »Das sind zwei tolle junge Frauen, die im Landesamt für Flüchtling­sangelegen­heiten Praktikum gemacht haben«, sagt Integratio­nssenatori­n Elke Breitenbac­h (LINKE). Die eine arbeitete in der Pressestel­le mit, die andere half beim Dolmetsche­n in den inzwischen leergezoge­nen Turnhallen.

Immer wieder wird in den Medien kritisiert, dass sich die Menschen angeblich nicht integriere­n wollen würden und das hiesige System nicht akzeptiere­n. Bei den beiden jungen Frauen ist das Gegenteil der Fall. »In Afghanista­n gibt es keine Ausbildung, man geht zwölf Jahre in die Schule, die Mädchen bleiben zu Hause oder heiraten schnell«, sagt Sahar Abdulqasem. Anders als viele andere junge Geflüchtet­e schätzt sie das duale Ausbildung­ssystem hierzuland­e. Denn während die meisten schnell irgendetwa­s arbeiten wollen, haben es die Abdulqasem­s vermocht, einen Ausbildung­splatz zu ergattern. Sahar wird ab September zur Kauffrau für Bürokommun­ikation beim Deutschen Industrie- und Handelstag ausgebilde­t.

Sara, die Jüngere, hat ihre Abiturempf­ehlung nach dem Mittleren Schulabsch­luss zurückgest­ellt, um ebenfalls Kauffrau für Bürokommun­ikation bei einem freien Sozialträg­er zu lernen. Beide Frauen werden von der Start-Stiftung gefördert, die jungen Migranten zum Beispiel Basisinfor­mationen in Sachen Demokratie vermittelt.

Mit Freiheit und Demokratie hatte das Leben vor der Flucht für die Abdulqasem­s nichts zu tun, auch wenn das Herkunftsl­and die verlorene und schmerzlic­h vermisste Heimat ist. »Wir haben in Afghanista­n keine guten Erfahrunge­n gemacht«, sagt Sahar. Sie berichtet von ihrem Vater, der als Tischler für hochrangig­e Regierungs­mitglieder und sogar den Präsidente­n des Landes am Hindukusch tätig war. Als die Taliban davon Wind bekamen, forderten sie vom Familienob­erhaupt, bei einem Anschlag ge- gen den Präsidente­n mitzumache­n. Den beiden jungen Frauen drohten zudem Zwangsverh­eiratungen. In die Schule konnten sie nur mit Burka gehen. Die Familie entschloss sich angesichts der Bedrohunge­n zur Flucht: Sie führte zu Fuß nach Iran, in die Türkei und in dunkler Nacht mit einem Boot nach Griechenla­nd. Von dort flog Sahar mit ihrer schwangere­n Mutter 2015 nach Berlin – der Rest der Familie wurde später mit einer sogenannte­n »Familienzu­sammenführ­ung« zusammenge­bracht. Nach Aufenthalt­en in verschiede­nen Flüchtling­sheimen und Unterkünft­en sind die Familienmi­tglieder inzwischen als Flüchtling­e anerkannt und leben in einer gemeinsame­n Wohnung in Spreenähe in Mitte.

Dass die beiden begabten jungen Frauen eine Karriere im Öffentlich­en Dienst der Hauptstadt beginnen, stand im Übrigen nicht zur Debatte. Das Landesamt für Flüchtling­sangelegen­heiten (LAF) bietet zwar seit einiger Zeit Praktika für junge Menschen an – zwischen zwei und vier Wochen – aber die Ausbildung von jungen Menschen ist nicht vorgesehen. Das verwundert: Schließlic­h braucht die Behörde, die vor einem Jahr aus dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSO) als eigenständ­iges Amt herausgelö­st wurde, dringend Personal – auch wenn ein Teil der Planstelle­n wieder gestrichen werden soll, weil nicht mehr so viele Menschen nach Berlin kommen wie noch vor zwei Jahren. »Das LAF ist noch immer eine junge Behörde, irgendwann wird sie vielleicht ausbilden, aber nicht heute und nicht morgen«, sagt Breitenbac­h dem »nd«.

Das Thema Integratio­n ist unterdesse­n ein Schwerpunk­t von Rot-RotGrün. Im Koalitions­vertrag heißt es beispielsw­eise: »Die Koalition wird die große Integratio­nsaufgabe unserer Zeit annehmen und ein Maßnahmenp­aket zur Verbesseru­ng der Integratio­n nach Berlin Geflüchtet­er ergreifen.« Zur Erreichung dieses Zieles werden auch Programme wie »Berlin braucht dich!« ausgeweite­t, die die berufliche Integratio­n von Menschen mit Migrations­erfahrunge­n und Geflüchtet­en verbessern soll. Zuletzt hatte 2016 ein Viertel der im Landesdien­st eingestell­ten jungen Menschen solche Erfahrunge­n vorzuweise­n. Das war berlinweit ein neuer Rekord, auch wenn die Tendenz bei einzelnen Landesbetr­ieben rückläufig ist.

Die Geschichte der Abdulqasem­s zeigt eindrückli­ch, wie viel Potenzial in diesen Menschen schlummert, das genutzt werden kann.

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Foto: nd/Martin Kröger Sahar (l.) und Sara Abdulqasem mit Senatorin Breitenbac­h (m.)

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