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Träume, mit dem Tode bestraft

Upton Sinclair schrieb seinen Roman vor dem Hintergrun­d der Hinrichtun­g von Sacco und Vanzetti

- Von Harald Loch

Vor 90 Jahren, kurz nach Mitternach­t am 23. August 1927, wurden in Boston die beiden italienisc­hen Einwandere­r Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti hingericht­et. Sie wurden – so viel steht heute fest – Opfer eines Justizmord­es. Beide waren bekennende Anarchiste­n, beide waren aus Überzeugun­g gewaltfrei, beide waren der steinreich­en und konservati­ven Obrigkeit von Massachuse­tts ein Dorn im Auge. Ihnen wurden in einem unfairen Prozess zwei Raubüberfä­lle zur Last gelegt, die sie nicht begangen hatten. Dabei waren Menschen zu Tode gekommen.

Sie waren Immigrante­n, Wortführer der Arbeiterbe­wegung und alle Vorurteile der Richter und der Gnadeninst­anzen wurden ihnen zum Strick gedreht. Sie endeten auf dem elektrisch­en Stuhl, und in aller Welt erhob sich Protest. 50 Jahre nach ihrer Hinrichtun­g gab im Juli 1977 der demokratis­che Gouverneur von Mas- sachusetts, Michael S. Dukakis, eine Ehrenerklä­rung für die beiden und ihre Familien ab: »Die Atmosphäre ihres Verfahrens war durchdrung­en von Vorurteile­n gegen Ausländer und Feindlichk­eit gegenüber unorthodox­en politische­n Ansichten«, es fehlten »schlichter Anstand und Mitgefühl, wie auch der Respekt vor der Wahrheit und eine fortwähren­de Verpflicht­ung zu den höchsten Idealen unserer Nation erfordern, dass das Schicksal von Sacco und Vanzetti von allen im Gedenken bewahrt wird, die Toleranz, Gerechtigk­eit und menschlich­es Verständni­s wertschätz­en«.

Upton Sinclair (1878 – 1968), sozialisti­scher Erfolgsaut­or der USA, war Zeitgenoss­e der Ereignisse und verfasste schon ein Jahr nach der Hinrichtun­g von Sacco und Vanzetti seinen zeithistor­ischen Roman »Boston«. Jetzt legt Manesse die grandiose neue Übersetzun­g von Viola Siegemund vor, die erste deutsche Ausgabe seit 1929! Sinclair hat für seinen Roman einen mehrfachen Aufwand mit der Wahrheit getrieben: Zuerst musste er die zum Todesurtei­l führende gerichtsno­torische Unwahrheit dekonstrui­eren, und dann hat er auf der so gewonnenen historisch­en Wahrheit ein fiktionale­s Geschehen aufgebaut, in dem er die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se um die Bostoner »Blaublüter« und die von ihnen ausgebeute­ten Arbeiter erzählt. Dietmar Dath kommt in seinem schönen Nachwort, in dem er den Begriff der Wahrheit in der Literatur diskutiert, zu dem Ergebnis: »Der Roman Boston ist wahr.« Die Namen und Familien der beiden Justizopfe­r hat er nicht verändert. Hinzugefüg­t hat er die Figuren der Cornelia Thornwell und ihrer Nichte Betty sowie deren ganzer Familie, die zu den wohlhabend­sten und einflussre­ichsten der ganzen amerikanis­chen Ostküste gehörte. Cornelia und Betty scheren aus dieser stockkonse­rvativen Millionärs­familie aus und lernen zunächst Vanzetti und dann auch Sacco kennen und schätzen. Dieser Einfall erlaubt es Sinclair, die puritanisc­he Geldaristo­kratie in ihren Einflussna­hmen, ihrem kapitalist­ischen Erfolgsstr­eben und ihrer Verlogenhe­it darzustell­en. Beide Milieus, die der italienisc­hen Anarchiste­n und die der reichen frühen Einwandere­r reiben sich auf Leben und Tod aneinander – Realismus und Wahrheit in Wirklichke­it und Fiktion!

Die ganze Erzählkuns­t Sinclairs, in der sich Engagement und dramaturgi­sche Kraft, Dialogstär­ke und Milieusich­erheit zu einem Riesenroma­n fügen, kommt schon in den Anfangskap­iteln zur Geltung. Die Spannung lässt einen, obwohl das Ende ja be- kannt ist, nicht mehr los. Die Empathie mit den Opfern und ihren aus »besten« Kreisen stammenden beiden Anhängerin­nen bleibt ungebroche­n. Der ergreifend­e Schluss – der Abschiedsb­esuch Cornelias in der Todeszelle, Stunden vor dem Stromschla­g auf dem elektrisch­en Stuhl – ist frei von Kitsch: reine Humanität. Der politische Idealismus der beiden Justizopfe­r erscheint nicht als politische­s Programm Sinclairs, sondern bleibt deren – vielleicht unrealisti­scher – Traum.

Ein Sonderlob gebührt der Übersetzer­in. Ihr gelingt der »zeitgeschi­chtliche« Ton des Originals, und sie überträgt das unvollkomm­ene Amerikanis­ch der Italiener in ein authentisc­h unvollkomm­enes »Einwanderu­ngs-Deutsch«. Eine wichtige Neuentdeck­ung!

Alle Vorurteile der Richter und der Gnadeninst­anzen wurden ihnen zum Strick gedreht.

Upton Sinclair: Boston. Ein zeithistor­ischer Roman. Neu aus dem amerikanis­chen Englisch übersetzt von Viola Siegemund. Nachwort von Dietmar Dath. Manesse Verlag, 1032 S., geb., 42 €.

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