nd.DerTag

Harte Hand und Datenwut

Protestier­er erhalten nach G20 heftige Strafen – Behörden stehen derweil wegen Informatio­nspolitik in der Kritik

- Von Sebastian Bähr Mit Agenturen

Das Bundesinne­nministeri­um verfügt offenbar über eine Million Datensätze zu politische­r Kriminalit­ät. Im Falle von mehreren Journalist­en oftmals falsche. Seit sieben Wochen saß der 24-jährige Pole Stanislaw W. in Untersuchu­ngshaft. Polizisten hatten Murmeln, Feuerwerk, eine Taucherbri­lle und Reizgas bei ihm entdeckt – rund anderthalb Stunden vor der »Welcome to Hell«-Demo, die in Hamburg während der G20-Proteste Anfang Juli von Hundertsch­aften und Wasserwerf­ern zerschlage­n wurde. Nachdem das Amtsgerich­t der Hansestadt im Nachgang kürzlich erstmals einen vermeintli­chen Flaschenwe­rfer zu einer außerorden­tlich hohen Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt hatte, kam am Mittwoch der polnische Kunststude­nt als zweiter Verdächtig­er an die Reihe. Angeklagt war er wegen Verstoßes gegen das Waffen, Sprengstof­f- und Versammlun­gsgesetz.

Der nicht vorbestraf­te Stanislaw W. beteuerte, dass er die Demonstrat­ion gar nicht besuchen wollte. Das Gericht glaubte ihm nicht – und verurteilt­e ihn zu einem halben Jahr Gefängnis auf Bewährung. »Mein Mandant hat niemandem etwas zuleide getan«, kommentier­te sein Verteidige­r empört die erneut relativ hohe Strafe. Er wolle in Berufung gehen. Der Richter erklärte seine Entscheidu­ng mit einem »generalprä­ventiven Aspekt« – also einer Abschrecku­ngsfunktio­n. 31 weitere Menschen sitzen im Zusammenha­ng mit den G20-Protesten noch in Untersuchu­ngshaft.

Abseits der Prozesse zeigte sich am Mittwoch ein weiterer fragwürdig­er Umgang der Behörden im Zusammenha­ng mit dem umstritten­en Gipfeltref­fen: Recherchen der ARD zufolge basierte die Entscheidu­ng des Bundespres­seamtes, 32 Journalist­en die bereits erteilten Akkreditie­rungen zu entziehen, in vielen Fällen auf Einträgen in Polizeidat­eien, die entweder offensicht­lich falsch oder nach Einschätzu­ng von Juristen eindeutig rechtswidr­ig waren. Auch zwei nd- Kollegen waren von der Maßnahme betroffen.

Der Umfang der zugrunde liegenden Datensätze ist dabei offenbar größer als gedacht: Das Bundesinne­nministeri­um teilte dem ARD-Hauptstadt­studio auf Anfrage mit, allein in der Fallgruppe »Innere Sicherheit« seien aktuell 109 625 Menschen und 1 153 351 Datensätze zu einzelnen politisch motivierte­n Straftaten gespeicher­t. In der Falldatei »Rauschgift« seien sogar rund 700 000 Menschen gespeicher­t, meistens wegen Cannabis-Bagatellde­likten, wegen denen es nur sehr selten einen Straf- befehl oder eine Verurteilu­ng gegeben habe. In den Dateien zu »politisch motivierte­r Kriminalit­ät« finden sich laut ARD-Recherchen 15 Jahre alte Datensätze zu Bagatellde­likten, bei denen es nicht einmal zu einer Anklage kam. Doch auch Datensätze über vermeintli­ch schwerwieg­ende Straftaten sind dem Bericht zufolge falsch.

So sei in der Akte des Berliner Fotografen Björn Kietzmann die angebliche »Herbeiführ­ung einer Sprengstof­fexplosion« aus dem Jahr 2011 gespeicher­t, obwohl Kietzmann damals nachweisli­ch zu Unrecht verdächtig­t worden sei. »Auf diese Art wird die Pressefrei­heit mit Füßen getreten«, sagte der Fotograf gegenüber »nd«. »Für alle Ewigkeit werden hier falsche Daten in den Akten gespeicher­t und daraus werden dann noch Empfehlung­en für Polizeibeh­örden erstellt.« Aus Sicht von Kiezmann ist dies rechtswidr­ig, er will juristisch dagegen vorgehen.

Auch der vom Akkreditie­rungsentzu­g betroffene Stuttgarte­r Fotograf Alfred Denziger berichtete gegenüber »nd« von »sechs Seiten gespeicher­ter Daten«, obwohl er lediglich einmal einen Haftbefehl von 500 Euro aufgrund einer angebliche­n Be- leidigung erhalten habe. »Von Halbwahrhe­iten über belanglose Bespitzelu­ngen bis hin zu absoluten Unwahrheit­en ist alles vertreten.«

Das Bundesinne­nministeri­um räumte für mindestens vier Fälle eine fehlerhaft­e Entscheidu­ng ein. In diesen Fällen hätten die Akkreditie­rungen nicht entzogen werden dürfen, sagte ein Sprecher des Ministeriu­ms am Mittwoch in Berlin. Es verdichtet­en sich zudem Hinweise, dass noch Ulla Jelkpe, LINKE

ein weiterer Fall dazukomme. Das Ministeriu­m bestätigte zudem die ARDRecherc­he und kündigte eine umfassende Überprüfun­g aller Datensätze an. Bundesjust­izminister Heiko Maas forderte am Mittwoch eine sorgfältig­e Aufklärung: »Unnötig gespeicher­te Daten schaffen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.«

Die Organisati­on Reporter ohne Grenzen kritisiert­e die Datennutzu­ng des Bundeskrim­inalamtes. »Es wird immer deutlicher, dass die Sicherheit­sbehörden einige Journalist­en aufgrund grob fehlerhaft­er und teils eindeutig rechtswidr­ig gespeicher­ter Einträge in ihren Arbeitsmög­lichkeiten eingeschrä­nkt und als vermeintli­che Gewalttäte­r stigmatisi­ert haben«, sagte Vorstandss­precher Michael Rediske. Das BKA sammele offensicht­lich in großem Stil und weitgehend nach Gutdünken Daten, deren Relevanz für die öffentlich­e Sicherheit in vielen Fällen mehr als fragwürdig sei.

Ulla Jelpke, die innenpolit­ische Sprecherin der Linksfrakt­ion, forderte die Behörden zu einem anderen Umgang mit Informatio­nsbestände­n auf. »Das BKA muss seinen Datenbesta­nd schleunigs­t auf das rechtlich Zulässige reduzieren.« Erschrecke­nd sei die Gleichgült­igkeit, mit der das BKA auf Warnrufe der Bundesdate­nschutzbea­uftragten reagiert.

»Das BKA muss seinen Datenbesta­nd schleunigs­t auf das rechtlich Zulässige reduzieren.«

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Foto: plainpictu­re/Onimage/Gabric Ob digital oder klassisch – der Staat sammelt gerne Informatio­nen über seine Bürger.

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