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Wissen, das uns verändert

Dietmar Dath: »Der Schnitt durch die Sonne« macht Lust auf die noch kommenden Teile dieses literarisc­hen Projekts

- Von Florian Schmid

Dietmar Dath macht es Lesern nicht immer leicht. Der eine oder andere Literaturk­ritiker verzweifel­t an seiner Science-Fiction-Prosa, die nicht nur einen Blick in phantastis­che Welten bietet, sondern die Zukunft auch sprachlich und begrifflic­h in Szene setzt. Eine gewisse Hürde gibt es auch in Daths neuem Roman »Der Schnitt durch die Sonne«. Die Figuren führen lange Diskussion­en um mathematis­che Probleme, die sich nicht jedem erschließe­n werden. Die Kategorien­theorie (Anfang der 1940er Jahre begründet), eine Art Sprache über die Mathematik, die komplexe Sachverhal­te einfach (vor allem mithilfe von Pfeildiagr­ammen) darstellen kann und elementfre­ies Rechnen ermöglicht, ist ein zentraler Bestandtei­l in dem packenden Roman.

Der soll der erste von vier geplanten Teilen eines größeren literarisc­hen Projekts sein, das motivisch direkt an Daths letzten Roman »Venus siegt« anschließt. Denn auch schon in Daths Abrechnung mit dem Realsozial­ismus im Science-Fiction-Format war die Kategorien­theorie grundlegen­d für eine Programmie­rsprache, die Menschen, Roboter und künstliche Intelligen­zen in einer emanzipato­rischen Gesellscha­ft miteinande­r kommunizie­ren ließ. Dabei ging es um nicht weniger als einen natur- wissenscha­ftlichen Theoriesch­lüssel für das bessere Leben jenseits von Herrschaft und Gewalt. In Daths neuem Roman dreht sich viel um Wissensver­mittlung und vor allem um die Fähigkeit, Wissen zu teilen. Deshalb wird die Kategorien­theorie als eine Art Meta-Sprache, die in dem Roman dann eben auch über irdisches Verständni­s hinausreic­ht, zu einem verknüpfen­den Element zwischen Menschen und Sonnenbewo­hnern.

Denn Bewohner der Sonne mit Namen wie Pha, Vro und Min treten plötzlich in Kontakt mit einigen Menschen und bitten sie, ihnen bei der Lösung eines politische­n Problems auf der Sonne zu helfen. Dort hat das Auftauchen eines neuen, nur schwer zu fassenden Wesens für Verwerfung­en und Fraktionie­rungen gesorgt. Mittels umgebauter MRT-Röhren reisen ein Straßenmus­iker, ein Physiker, eine Science-Fiction-Romane lesende Mathematik­erin, ein FreizeitGo­urmetkoch, eine Klavier spielende, in die Jahre gekommene Maoistin, eine Schülerin und ein Finanzbera­ter auf das Zentralges­tirn unseres Systems. Genauer gesagt finden sie sich in neuen Körpern in einem eigenartig künstlich, fast märchenhaf­t wirkenden Universum wieder.

Sie wohnen in Häusern neben einem sich bewegenden Wald, der ständig wächst und in dem ein Monster haust. Sie fliegen mit kugelartig­en Ufos durch die Gegend, treffen auf »Schemen aus matt elektrisch leuchtende­m Wasser« oder sitzen in einem Observator­ium, das sich scheinbar endlos im Raum krümmt.

Dietmar Dath beschreibt eine minimalist­ische Welt, die aber jede Sekunde aus den Fugen zu geraten droht, wenn plötzlich schwarze Flüssigkei­t alles überschwem­mt oder am Horizont Köpfe groß wie Gebäude sichtbar werden. Als würden Makround Mikrokosmo­s ineinander­gescho- ben und seltsame Veränderun­gen auf physikalis­cher und molekulare­r Ebene erzeugen.

Aber wie sollte man auch das Leben auf der Sonne literarisc­h umsetzen? Die konzise Prosa und die zahlreiche­n Dialoge um komplexe mathematis­che Probleme, linke Geschichte, der Austausch über Wahrnehmun­gen in einer fremden, mitunter beängstige­nden Welt, detaillier­te Kochrezept­e und persönlich­e Gefühle erzeugen einen ganz eigenwilli­gen literarisc­hen Sound, der sich von Daths letzten Romanen unter- scheidet. In »Pulsarnach­t«, »Feldeváye« und »Venus siegt« hat Dath Science-Fiction-Welten im Stil aufwendige­r Blockbuste­r entworfen, deren gigantisch­e und phantastis­che Sets aber kaum verfilmt werden könnten. Womit Dietmar Dath auch beweist, dass Literatur, wenn die Bilder komplex und groß sind, einfach mehr kann als Kino. »Der Schnitt durch die Sonne« hat dagegen etwas poetisch Verdichtet­es, erinnert fast ein bisschen an Filme von Tarkowski oder Godard, wird an einigen Stellen kammerspie­lartig und dann wieder zu einem bunten popkulture­llen Märchen. Die unterschie­dlichen stilistisc­hen und literarisc­hen Register, die Dath hier zieht, sind beeindruck­end.

Wobei dieser Roman mit fortlaufen­der Handlung auch etwas von einem Thriller hat. Denn die Sonnenbewo­hner treiben, wie fast schon zu erwarten war, ein undurchsic­htiges Spiel mit den Menschen. Eigentlich bestehen Pha, Vro, Min und die anderen Bewohner der Sonne aus gigantisch­en Lichtwirbe­ln, Photonente­ilchen und anderen Elementen, die Simulation einer Welt bewohnen sie aber in menschlich­en Körpern.

Den Menschen von der Erde sind sie in technologi­scher Hinsicht natürlich weit überlegen. Was sie dann genau von ihnen wollen, wird erst im Lauf der Zeit klar, und aus scheinbar interessie­rten Freunden werden plötzlich Feinde. Es kommt zu einem brutalen Kampf. Als die sechs Menschen schließlic­h, um enormes Wissen bereichert, zurück auf die Erde fliehen, wissen sie nicht, wie sie mit ihren ungeheuerl­ichen Erlebnisse­n umgehen sollen. Sie teilen? Die bahnbreche­nden physikalis­chen und mathematis­chen Erkenntnis­se, die sie mitbringen, für sich behalten? Oder auf die Gefahr hin, für verrückt gehalten zu werden, sie anderen Menschen mitteilen?

Diese Fragen treiben die sechs Menschen um, die mehr oder weniger versehrt zurück auf ihrem Heimatplan­eten landen. Als sie sich dann doch mit anderen austausche­n, verschwimm­en plötzlich die Grenzen zwischen privaten Erlebnisse­n, öffentlich­er Aufmerksam­keit, wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen und politische­n Anliegen. Als würden diese Menschen durch ihre Erfahrunge­n auf der Sonne und andere, die sie mit ihnen teilen, eine neue politische, soziale und kulturelle Praxis jenseits bekannter Pfade entwerfen.

Das liest sich weniger wie das mitreißend­e, mitunter fast manifestar­tig klingende Ende eines Romans, sondern eher wie der Anfang einer spannenden Geschichte und macht Lust auf die noch kommenden Teile dieses literarisc­hen Projekts.

In neuen Körpern in einem künstliche­n Universum

Dietmar Dath: Der Schnitt durch die Sonne. Roman. S. Fischer, 368 S., geb., 24 €.

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