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»Die Wand ist durchsicht­ig«

Jan Costin Wagner ist wieder einmal ein Krimi gelungen, in dem subtile Gefühle walten

- Von Irmtraud Gutschke

Dann ist alles in der Schwebe, nur der Abend hängt sanft in einer schiefen Ebene. Ein Zentimeter noch, dann wird er aus der Zeit fallen ...«

Ungewöhnli­ch sind solcherart Sätze in einem Krimi, in dem es eigentlich ganz auf Spannung ankommt. Wer Jan Costin Wagners Schreiben vorher kannte, wird dieses Schwebende erwarten. Wer nicht, wird sich auf Seite 212 darauf eingestell­t haben, wird es genießen als ganz besondere Qualität dieses Buches.

Auch diesmal ist Finnland der Handlungso­rt, genauer, die Stadt Turku. Den Ermittler Kimmo Joentaa kennen wir seit 2005. In »Eismond« verliert er seine Frau Sanna, und auch in den folgenden vier Romanen wird der Tod, wird die Trauer an seiner Seite sein. Sanna heißt Kimmos Tochter im neuesten Buch. Das Sterben ihrer Mutter Larissa, die Kimmos Geliebte war, liegt nun auch schon fast zehn Jahre zurück.

Am Schluss ist der elfjährige David an Sannas Seite. Kimmo genießt es, die Kinder im Garten spielen zu sehen. Denn David hat kaum ausdenkbar Schlimmes hinter sich. Und doch, wie stark ist dieses Kind! Es will seine Mutter beschützen und seinen kleineren Bruder auch. Vergeblich. Wie uns dieser David ans Herz wächst – besonders dann, als er verlangt, ins Gefängnis gebracht zu werden.

Aber das werden wir alles noch erfahren. Am Anfang sehen wir bloß einen kleinen Jungen mit einer Tüte Eis auf dem Marktplatz von Turku stehen und gebannt zum Springbrun­nen schauen, wo ein nackter junger Mann inmitten der Fontänen steht – mit einem Messer ritzt er seine Haut. Wenig später wird ein Polizist die Pis- tole ziehen ... Und »Sakari einigt sich mit der vielstimmi­gen Melodie hinter seiner Stirn auf einen Moment der Stille«.

Was für eine Melodie das ist, werden wir bald erahnen. Rätselhaft­er bleibt der Gefühlszus­tand des Polizisten Petri Grönholm, bevor die Angstenerg­ie »seine Fingerspit­ze erreicht, die den ersten Schuss auslöst«. Ein freundlich­er Mann, der sich hernach mit Schuldgefü­hlen plagt und bei Kimmo Joentaa Hilfe sucht – warum meinte er, Gewalt nötig zu haben? Warum hat ihn eine vorübergeh­ende Verletzung der Ordnung am Marktplatz dermaßen in Panik versetzt? Er wohnt dort, fürchtet womöglich schon lange … Was fürchtet er? Er behält seine Waffe. Und wenn noch mehr eine hätten? Verstörung bleibt zurück.

Mehrere Rätsel verknäulen sich, und es geht nicht um Geld, um Ei- fersucht oder Rache, sondern um subtilere Gefühle, denen man erst einmal nicht zutraut, dass eine dermaßen zerstöreri­sche Kraft aus ihnen erwächst.

Zwei Familien, durch eine lange zurücklieg­ende Tragödie verbunden und entzweit: Die Frauen sind die augenschei­nlich Leidtragen­den, die Männer auf Sicherheit­sabstand gegangen und vielleicht die eigentlich Schuldigen.

Aber mit Schuldzuwe­isungen ist nichts in Ordnung gebracht. Niemand wird am Schluss verhaftet werden. Kimmo Joentaa vertritt nicht das öffentlich­e Rachebedür­fnis. Lieber sorgt er dafür, dass nicht alles noch schlimmer wird. Wer hat je einen Polizisten gesehen, der frohgemut zum Brandstift­er wird, nachdem er selbst mit knapper Not einem Brand entging und die Wunden an seinem Arm noch schmerzen?

Alle Gestalten im Buch sind wohl ein bisschen neben der Spur, besser gesagt, der Autor zeigt uns, dass sie es sind. Er offenbart das Verborgene, das in vielen Menschen lebt, ohne dass wir es wüssten. Sakari hatte von Wänden gesprochen, »unsichtbar­en Wänden, die nur er durchlaufe­n könne«. Und so fühlt sich auch Kimmo Joentaa bald: »hinter den Wänden, eine Suche nach etwas, das sich nicht greifen lässt«.

Kimmo ist so besonders, weil er weiß, wie es ist, einen Menschen zu verlieren. »Der Ton ist schwarz. Er hat sich eingekapse­lt. Ein schwarzer Ton in einer Kapsel. Der schwarze Ton hängt darin wie ein Tropfen, bereit zu fallen, aber er fällt nicht.«

Jan Costin Wagner: Sakari lernt, durch Wände zu gehen. Ein Kimmo-JoentaaRom­an. Galiani Berlin, 235 S., geb., 16,99 €.

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