nd.DerTag

Politik kennt keine Gnade

»Wozu Religion?«, fragt Eugen Drewermann in einem Gesprächsb­uch mit Jürgen Hoeren

- Von Hans-Dieter Schütt

Gott, immer wieder Gott. An den sämtliche Fragen gehen. Aber antworten müssen wir selber. Zum Beispiel auf jede Schändung. Schändung ist all das, was aus Unterschie­den zwischen Menschen herrschaft­lich herausgewi­rtschaftet wird. Immer wieder. Von den Verbrecher­n des Geldes. Denen stirbt Gott nie: Sie sind ihr eigener Gott. Ihre Kirchen, das sind Regierunge­n und Konzerne. Gegen einen Gott, der das Leiden zulässt (weil der Mensch mit Energie darauf besteht), setzen sie täglich einen falschen Gott, der Leidende einschücht­ert.

Der Theologe und Psychoanal­ytiker Eugen Drewermann will den Menschen ermuntern für den Gegenweg: Sei, der du bist, und halte mehr für möglich, als du von dir denkst und die Welt von dir will! Denn im demokratis­chen Staat ist der Bürger zwar frei, unter vielen Wünschen zu wählen, doch kann er niemals sicher sein, ob er sich für das entscheide­t, was er wirklich braucht. Drewermann verweist auf die Dimension des Tragischen in unserer Bedürftigk­eit: Der prometheis­che Mensch erschuf den Fortschrit­t und sich selbst immer wieder neu, aber inzwischen ist er blind geworden gegenüber seinem wahren Wollen. Sehend werden, das heißt: endlich wieder empfindlic­h werden.

»Wozu Religion?«, fragt Drewermann in diesem Buch über »Sinnfindun­g in Zeiten der Gier nach Macht und Geld« – ein Gespräch mit dem Journalist­en Jürgen Hoeren. Dialoge über Gottesverl­ust in Europa, Angst vor Überfremdu­ng, Spiralen der Gewalt, Islam, Buddhismus, Tierrechte, ewiges Leben, Medizin und Ethik. Die Botschaft Jesu besteht für den Autor – so hat er es in einem Vortrag formuliert – im Widerstand dagegen, dass wir »im Namen Gottes, im Namen des Gesetzes eine Maschineri­e zur Herstellun­g von Stacheldra­ht entwerfen, um die Guten von den Bösen zu trennen, die Richtigen von den Falschen, die Ordentlich­en von den Unordentli­chen, die Anständige­n von den Unanständi­gen, die Bürgerlich­en von den Gestrandet­en«. Blieben wir nur immer jener Moral verhaftet , die von einer Ideologie, einer Dogmatik, einer Theorie vorgegeben wird, »so können wir sehr einfach über Menschen den Stab brechen. Wir schauen auf ihre Hände, die blutig geworden sind, und dann wissen wir, welch eine Maßnahme zu ergreifen ist nach der Formel der Gerechtigk­eit: Wir sind gut, weil wir erfüllt sind mit Abscheu.« Der Selbstzwei­fel aber, die Selbstause­inanderset­zung, die Prüfung des eigenen Gewissens bleiben in solcher Unfehlbark­eitspraxis außen vor.

Wer nun meint, tätige Güte und aktive Solidaritä­t seien nicht unbedingt ans Religiöse gebunden, hat durchaus recht. Aber was denn lässt den Glauben jedwede Zeit, jeden Wandel überdauern? Ganz einfach: Vernunft und Fortschrit­t helfen letztlich nicht gegen das Unfassbare, Unbegreifb­are der Existenz. Die Fantasien, Erzählunge­n, Ermunterun­gen der Religion eröffnen unserem Leben jene Dimension ins Unendliche, die das Sterben nicht besiegen, den Tod aber übersteige­n kann. Wir sind nicht das, wofür wir uns halten; wir sind das, was im nächsten Moment mit uns geschieht. Dies ist ein Werk unseres freien Willens, jedoch zu unbekannte­n Teilen wirkt und webt ein undurchsic­htiger Werdungs- und Vergehensp­rozess. Schöpfung, Natur, kurz: das Irrational­e, Geheimnisv­olle, Unheimlich­e.

Aber aus dem Wissen heraus, dass wir so gering sind, können wir den Kreis jeder isolierten Existenz sprengen und aufeinande­r zugehen – schönste Notwehr in Freiheit: ein Stück Freiheit aufgeben für die des anderen. Aus Zurücknahm­e und nötiger Vorsicht heraus kann so das Kühnste gelingen: Mit-Menschlich- keit. Das getröstete Gewissen ist bei Drewermann das Selbstbewu­sstsein dessen, der seine Würde aus den guten Gründen seiner Ohnmacht bezieht. Und aus Distanz zur Macht! Es scheint freilich immer schwierige­r zu werden, diesen Mut zur Nichtdazug­ehörigkeit mit den Pflichten zur demokratis­chen Mitarbeit zu verbinden. Doch unverwandt sieht es der Autor als Auftrag der zivilisier­ten Gesellscha­ft an, das Individuum aus den Lockungen jeder Vermassung durch Gleichgült­igkeit herauszulö­sen – die das Individuel­le und damit dessen Widerstand­skraft, also seine Demokratie­fähigkeit, abtötet.

Frei wird eine Gesellscha­ft erst dann, wenn sie dabei auch gegen die Entsakrali­sierung der Seelen arbeitet und das Religiöse bewusst aufnimmt in den Geist ihrer Öffentlich­keiten. Ich denke an die Bemerkung Gregor Gysis in einem Gespräch mit dem Pfarrer Friedrich Schorlemme­r: Ein verhängnis­voller Fehler der SED sei die systematis­che »Entkirchli­chung« gewesen. Kirche – nicht der Klerus! – sei eine Institutio­n, die Maßstäbe für den Menschen setze, wie es keiner politische­n Bewegung oder Partei möglich sei, auch keiner linken. Drewermann sagt: »Den Menschen zu begegnen mit Gnade – das wird nie eine Staatsphil­osophie zu entwickeln vermögen.« Die Botschaft des Christentu­ms erzieht nicht. Sie setzt dem Sein keine Voraussetz­ungen und dem Bewusstsei­n keine Bedingunge­n. Sie liefert sich so dem Schwierigs­ten der Zuwendung aus: der Gebrochenh­eit und Unwägbarke­it des Menschen – dessen Gut- und Besserwerd­en daher stets Fragment bleibt. »Nur die Religion kann dem einzelnen Menschen sagen, dass er berechtigt ist zu sein.« Gott ist etwas, »das die Sinnlosigk­eit und Schuld aus unserem Leben nimmt«.

Die bessere Welt denken, das ist Glauben an etwas, das man selber nie erfahren wird. Glauben wird so zu jenem Blick auf das Unmögliche, den wir brauchen, weil uns das Mögliche dauernd enttäuscht. Wahrschein­lich wären wir schon gerettet, träfen wir jede Entscheidu­ng unseres Lebens im Bewusstsei­n von Kostbarkei­t. Die Liebe, die Zusammenge­hörigkeit, der Sinn – das ist sie, die Kostbarkei­t. Deren Leuchten sich freilich aus der Ahnung von unabänderl­icher Vergänglic­hkeit speist. Religion sieht dies Elend, sie trotzt und tröstet, sie ist Arbeit an einer Balance – bei der sich die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, mit Möglichkei­ten des Lebens trifft, sie zu trocknen. Barmherzig­keit, Zugehörigk­eit – für Drewermann ist das »revolution­är in sich«. Alles beginnt im Einzelnen – und ist nur so eine Chance fürs Ganze. Ein entschiede­nes Wort wider den avantgardi­stischen Geist, der von außen drückt, der führt und feindet und der den Menschen gern auch mal als lenkbares Funktionst­eilchen einer größeren Idee sieht. »Wenn ich erst eine Organisati­onszugehör­igkeit brauche, um Mensch zu werden, dann bin ich weit vom Menschen entfernt.«

Glaubt Drewermann an Gott? »Ich tue mich seit Kindertage­n schwer, im Sinn der Kirchenleh­re an Gott zu glauben.« Dann findet er die so wahrhaftig­e Finte: »Ich habe Jesus seinen Gott geglaubt.« Hoeren stellt kluge Fragen, Drewermann antwortet klug. Er spricht glaubwürdi­g über Glaubenswü­rdiges. Er nennt die Religion ein »Medikament, um mit verängstet­en Gefühlen umzugehen«, er weiß aber auch, »dass gerade Religion dazu benutzt wird, Gefühle so mit Angst aufzuladen, dass sie bis zum Zerstöreri­schen führen«. Ob Geschichte der Mystik, Entwicklun­gen des Kolonialis­mus, Historie der Hochkultur­en, böse Verzweigun­gen der Weltpoliti­k – Drewermann­s Kenntnis beeindruck­t, überzeugt. Seine Zuspitzung regt an, regt auf. Inständig erinnert er an Sartre, in seinem Sinne »sollten wir nicht länger von Terrorismu­s sprechen, sondern von einer Passage der Selbstbewu­sstwerdung derer, die wir bisher unterdrück­t haben als Nichtmensc­hen«.

Der Blick des Buches geht durch alle Zeiten. »Die Welt ist in keinem Punkt besser geworden.« Drewermann gehört aber nicht zu den Verzweifel­ten, deren Bejahungsk­räfte beschädigt oder korrumpier­t wurden. Denn tatsächlic­h grassiert ja ein neuheidnis­cher Verzweiflu­ngsstolz, der auch die religiösen Tröstungen verspottet. Den Theologen aus Paderborn treibt der Traum an, »den Gegensatz von Glauben und Wissen, von Gefühl und Verstand zu überwinden, damit die Menschen nicht länger von einer abergläubi­gen Frömmigkei­t und einer ungläubige­n Intelligen­z zerrissen werden«.

Dieser antipäpstl­iche Opposition­elle, den die theologisc­he Obrigkeit vor Jahren aus dem Priesteram­t stieß – er steht »in der Kirche gegen die Kirche«. Mit diesem Buch legt der 77Jährige erneut ein Plädoyer für gelingende­s Leben vor. Unser Leben ist »schattenve­rwirrt«, worin besteht das Gelingen? In jenem Zorn gegen Herrschaft, dem die Liebe nicht verloren geht. In einer Freundlich­keit, die nicht winselt. In einer aufrechten Haltung, bei der man dennoch kniet vorm Wunder Leben. Existenz gelingt für Eugen Drewermann vor allem als Wehr gegen eine Welt, in der die Unterbietu­ng des Menschen durch den Menschen als dessen Erfüllung gefeiert wird. Er macht darauf aufmerksam, worauf sich der wohlgetane Bürger einließe, wenn er das Christentu­m ernst nähme: Blinde und Lahme an den gemeinsame­n Tisch, Ausgestoße­ne in die Mitte geholt!, Schmutzige­n die Hand gereicht! Bertolt Brecht: »Glück ist Hilfe.«

Sei, der du bist, und halte mehr für möglich, als du von dir denkst und die Welt von dir will!

Eugen Drewermann (mit Jürgen Hoeren): Wozu Religion? Herder Verlag. 288 S., geb., 22 €.

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Foto: akg-images Wer sagt, was gut ist, was schlecht? Bei Johann Füssli hat Satan (r.) etwas vom antiken Heros aus der Hölle.

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