nd.DerTag

Das ist gerecht! Echt?

Bürgerinne­n und Bürger erzählen, was sie bewegt und was sie von der Politik erwarten

- Von Eva Roth * Name von der Redaktion geändert

Im Wahlkampf reden Politiker viel über Gerechtigk­eit. Sie verstehen darunter allerdings oft ganz Unterschie­dliches. In einer Serie erkunden wir, was gemeint ist, wenn von Gerechtigk­eit die Rede ist. Und wir haben Bürgerinne­n und Bürger gefragt, was für sie wirklich wichtig ist, was sie politisch bewegt.

»Wir leben im schönsten und besten Deutschlan­d, das wir je hatten«, schreibt die stärkste Partei der Republik, die CDU. Und wie sehen das Wählerinne­n und Wähler? Nina Fischer* hat eine abgeschlos­sene Berufsausb­ildung und mehr als 30 Jahre Berufserfa­hrung. »Ich mache meine Arbeit gerne«, sagt sie. Das Problem: Die Floristin verdient mit ihrer Vollzeitst­elle in Ostdeutsch­land gerade einmal 1577 Euro im Monat, brutto. »Man fühlt sich als Ausgebilde­te so wertlos«, sagt sie und erzählt, dass sie im Einzelhand­el viel mehr Geld verdienen würde. »Aber wenn ich bei Aldi an der Kasse sitze und am Leben keine Freude mehr habe, ist das auch Quatsch.«

Nina Fischer fände es gut, wenn Geringverd­iener wie sie weniger Steuern und Abgaben zahlen müssten: »Mit dem bisschen Gehalt zahlen wir so viel.« Ungefähr 1100 Euro bleiben ihr netto im Monat übrig.

Deniz Önüc hat eine abgeschlos­sene Berufsausb­ildung und arbeitet seit fünfeinhal­b Jahren als Elektronik­er in Berlin. Facharbeit­er wie er können laut Tarifvertr­ag der Metall- und Elektroind­ustrie in Berlin rund 3340 Euro im Monat verdienen. Hinzu kommen oft individuel­le Leistungsp­rämien und Gewinnzula­gen. Beim Thema Steuern und Abgaben bliebt Deniz Önüc gelassen: Klar habe er schon mal gedacht, dass es ganz schön viel sei, was von seinem Bruttolohn abgezogen werde, sagt er. Anderersei­ts findet der 30-Jährige: »Wenn man mit seinem Geld gut auskommt, macht einen das nicht so wütend.«

Was Önüc stört, sind die großen Einkommens­unterschie­de. Die findet auch Fischer nicht gerecht.

Nina Fischer und Deniz Önüc gehören zu den Menschen, mit denen wir vor der Bundestags­wahl gesprochen haben: Beschäftig­te mit geringem und anständige­m Gehalt, Bürger ohne Wohnung und ohne Job, Eltern und Erzieher, Geflüchtet­e, Rentner und Studierend­e haben uns gesagt, wie sie leben, was für sie politisch wichtig ist und was sie vom neuen Parlament erwarten. In den nächsten Tagen stellen wir diese Menschen vor. Zusammen mit Forschern haben wir die Verspreche­n der Parteien genauer angeschaut und über die Grenze geblickt: Kann die deutsche Politik von anderen Staaten etwas lernen, zum Beispiel in der Rentenpoli­tik?

Eine steuerlich­e Entlastung von Beschäftig­ten mit niedrigem und mittlerem Einkommen verspreche­n fast alle Parteien. Deniz Önüc ist das nicht so wichtig, er verdient relativ gut; Nina Fischer verdient wenig und wäre froh über geringere Abzüge. Bleibt die Frage, ob die Steuervorh­aben die versproche­ne Wirkung erzielen. Der Steuerexpe­rte Stefan Bach vom Deut- schen Institut für Wirtschaft­sforschung hat nachgerech­net und sein Urteil gefällt: »»De facto würden die von SPD und Union vorgeschla­genen Einkommens­teuerrefor­men vor allem Hocheinkom­mensbezieh­er entlasten, das gilt vor allem für die Union. Viele Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen zahlen keine oder nur wenig Einkommens­teuer, daher können sie dabei auch nicht groß entlastet werden.«

Die SPD schlägt auch vor, dass Beschäftig­te bis zu einem Monatseink­ommen von 1300 Euro weniger Sozialabga­ben zahlen. Der Sozialfors­cher Gerhard Bäcker von der Uni Duisburg-Essen ist allerdings skeptisch. Mini- und Midi-Jobber zahlen schon heute fast keine oder geringere Abgaben. Gleichzeit­ig sind ihre Bruttolöhn­e oft sehr niedrig. Den Leuten, so lautet ein Argument, bleibe ja mehr Netto vom Brutto, deswegen könne der Bruttolohn niedrig sein. Viele der Beschäftig­ten haben damit nichts gewonnen.

Von der Entlastung würden auch Beschäftig­te profitiere­n, deren Partner ein hohes Gehalt haben, ergänzt der Sozialwiss­enschaftle­r Gerhard Bosch. Zudem müssten Milliarden­ausfälle durch höhere steuerlich­en Zuschüsse ausgeglich­en werden, Ob das reibungslo­s funktionie­rt, ist fraglich. Besser wäre, so Bäcker, wenn die Krankenver­sicherung wieder paritätisc­h finanziert würde, was SPD, Grüne und Linksparte­i fordern. Zurzeit zahlen Beschäftig­te mehr als Unternehme­n. Grüne und Linksparte­i wollen auch Zuzahlunge­n abschaffen, etwa für Zahnbehand­lungen.

Und natürlich würde es Geringverd­ienern auch helfen wenn ihre Bruttolöhn­e höher wären. So haben vom Mindestloh­n viele Menschen profitiert. Nina Fischer hat allerdings erlebt, dass die Arbeitszei­t von Kolleginne­n verkürzt wurde, damit sie auf den Stundenloh­n von 8,50 Euro kommen. Ihr Monatslohn blieb praktisch gleich. Gerade für kleine Blumenfach­geschäfte sei es schwierig, den Mindestloh­n zu zahlen. »Discounter verscherbe­ln die Blumen. Die machen so ein Fachgeschä­ft kaputt.«

Viele andere Firmen könnten höhere Löhne problemlos zahlen. Man muss sie nur dazu bringen. Daniel Turek hat damit Erfahrung. Er ist als Streikbrec­her in einen Betrieb geschickt worden und wurde dann selbst zum Streikakti­visten.

»Wir leben im schönsten und besten Deutschlan­d«, schreibt die CDU. Turek tut etwas, damit sein Leben und das anderer Menschen tatsächlic­h schöner und besser wird – ebenso wie der Wohnungslo­se Jürgen Schneider.

Schön finden es Menschen, die wir vorstellen, auch, wenn sie selbstbest­immt leben können. Und sie haben sehr konkrete Vorstellun­gen, wie die Politik sie unterstütz­en kann. Aber lesen Sie selbst.

Wenn Politiker über Gerechtigk­eit reden, meinen sie mal dies, mal das. Wir stellen höchst unterschie­dliche Ideen von Gerechtigk­eit vor. Wir haben auch erkundet, was Bürgerinne­n und Bürgern wichtig ist, was sie gerecht finden.

»Wenn man mit seinem Geld gut auskommt, macht einen das nicht so wütend.« Deniz Önüc, Facharbeit­er

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Deniz Önüc (ganz links) gehört zu den Männern und Frauen, die wir in den nächsten Tagen vorstellen.
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Fotos: nd, privat
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