nd.DerTag

Was ist schon gerecht?

Das Reden über Gerechtigk­eit müsste sich ändern, wenn der Begriff mehr sein soll als ein Wahlkampfl­uftballon

- Von Tom Strohschne­ider

Die SPD ist dafür. Die Linksparte­i sowieso. Sogar die FDP spricht darüber: Gerechtigk­eit. Meinen alles dasselbe? Über eine demokratis­che Kernfrage, die ohne begrifflic­he Schärfe nicht zu beantworte­n ist. Alle reden von Gerechtigk­eit. Zugegeben: Es sind nur fast alle – aber auch wenn viele darüber sprechen, ändert das allein noch nicht die Verhältnis­se. Woran liegt es, dass ein so großer und wichtiger Begriff zwar wie ein bunter Luftballon über dem Wahlkampf hängt, eine Auseinande­rsetzung zwischen den Parteien darüber, wie mehr Gerechtigk­eit praktisch erreicht werden könnte, aber kaum in Gang kommt? Es könnte daran liegen, wie über Gerechtigk­eit gesprochen wird.

Wenn zwei sagen, sie seien für mehr Gerechtigk­eit, heißt das noch lange nicht, dass sie dasselbe meinen – oder auch nur etwas Ähnliches. Es können Welten zwischen Gerechtigk­eitsvorste­llungen liegen. Alle paar Tage machen Umfrageerg­ebnisse die Runde, laut denen mehr oder weniger große Mehrheiten hierzuland­e die Verhältnis­se ungerecht finden. Ein bisschen kann dem jeder zustimmen. Man hat noch Schlagzeil­en von unzureiche­nden Gehältern, armutsbedr­ohten Kindern, wachsenden Erbschafte­n und hohen Profiten im Ohr. Doch was heißt das: Gerechtigk­eit?

Über das genaue Verständni­s davon, was gerecht ist, geben die oben genannten Umfragen meist keine Auskunft. Ob darunter jemand vor allem gleiche Startbedin­gungen für jeden, also Chancenger­echtigkeit, versteht, oder aber einen Zustand, der sich einer Ergebnisgl­eichheit annähert, also geringe Unterschie­de etwa bei Einkommen und Vermögen »unter dem Strich« wichtig findet, hat auch für die einzuschla­genden politische­n Wege große Auswirkung­en. Anderen steht der Sinn vor allem nach Geschlecht­ergerechti­gkeit. Und so fort.

Vielen ist die Leistungsg­erechtigke­it ein Leitbegrif­f. Die wäre verwirklic­ht, wenn die Markteinko­mmen der Beschäftig­ten nur davon abhingen, ob sie belastbar, effizient, einsatzber­eit sind. Das ist vor allem unter kapitalist­ischen Bedingunge­n eine Chimäre. Allerdings eine sehr wirksame, wie man an der parteipoli­tischen Debatte sieht, in der bis ins linke Lager hinein zum Beispiel von den »hart Arbeitende­n« die Rede ist, die es »verdient« hätten, gerecht bezahlt zu werden. Oder wenn gegen leistungsl­os zustande gekommene Vermögen aus Erbschafte­n oder Renditen rhetorisch zu Felde gezogen wird.

Über die Frage, was Leistung eigentlich ist und wie diese zu messen sein könnte, schweigen sich die Freunde der Leistungsg­erechtigke­it gern aus. Weder kann in einer so stark arbeitstei­ligen Gesellscha­ft das individuel­le Talent oder Arbeitsver­mögen über den gesellscha­ftlichen Gesamtnutz­en der einzelnen Tätigkeit etwas aussagen, noch können es Kennziffer­n wie die Produktivi­tät, die höchstens über das Marktergeb­nis der Lohnarbeit ganzer Betriebe Auskunft gibt. Auch wird man nicht schlauer, wenn man den Lohn als Maß hinzuzieht – dass Gehaltsunt­erschiede in aller Regel nichts mit Leistung zu tun haben, ist dabei nicht einmal eine Sache individuel­ler (hier eben »falsch« bewerteter) Unterschie­de, sondern eine Frage gesellscha­ftlicher Verhältnis­se.

Im Lohn spiegelt sich weniger die geleistete Arbeit des Einzelnen als vielmehr die Stärke von Gewerkscha­ften, die Wirkung von staatliche­r Regulation des Arbeitsmar­ktes, die Zahl der Arbeitsuch­enden und so weiter.

Ein anderes Beispiel: Wenn von der Altersvers­orgung die Rede ist, sprechen manche gern von Generation­engerechti­gkeit – aber nur selten davon, dass Politikans­ätze, die mehr Gerechtigk­eit für die einen verspreche­n, nicht notwendige­rweise für andere ebenso gerecht sind. Stichwort Ostrenten: Die sollen an die Westrenten angegliche­n werden, auf den ersten Blick ist das natürlich überfällig und eine Frage der Gerechtigk­eit. Auf den zweiten ist es komplizier­ter, denn bisher waren die Ostlöhne bei den Rentenansp­rüchen besser gestellt als die Westlöhne – was bei einer Angleichun­g entfallen würde. Die Folge: Künftige Ostrentner sind praktisch schlechter gestellt als die bisherigen. Ist das gerecht?

Eine weitere Dimension von Gerechtigk­eit, die weit verbreitet ist, findet in dem Satz ihren Ausdruck, dass insbesonde­re den Schwächste­n geholfen werden soll. Eine Gesellscha­ft wäre dann gerecht, wenn sie denen, die in eine Notlage geraten sind, unter die Arme greift.

Doch schon gehen auch hier die Unterschie­de los: Soll es eine unbedingte Grundsiche­rung sein, frei von staatliche­n Zumutungen? Oder geht es um »Fördern und Fordern«, wie ein Slogan aus der Agenda-Zeit lautete? Wie weit spiegelt sich Selbstvers­tändnis und Realität einer materiell äußerst reichen Gesellscha­ft in dem, was sie »ihren Armen« zuteil werden lässt? Seit langem gibt es Streit darüber, ob die aktuellen Hartz-IV-Sätze verfassung­srechtlich­en Vorgaben von einem Existenzmi­nimum genügen, das ein Maß an grundlegen­der Teilhabe überhaupt erst ermögliche­n soll.

Kurzum: Das Reden über Gerechtigk­eit müsste sich ändern, es müsste die jeweils einschlägi­ge Dimension des Begriffs klarer benennen. Geht es gerade um Leistungsg­erechtigke­it? Um Chancenger­echtigkeit? Oder um Befähigung­sgerechtig­keit, einen Begriff, den die Debatte dem Philosophe­n und Ökonomen Amartya Sen verdankt?

Es geht hier nicht um wissenscha­ftliche Kür oder theoretisc­he Angeberei, es geht um eine Schärfung, die nötig ist. Denn mit dem Begriff der Gerechtigk­eit kann auch Politik betrieben werden, die mehr Ungerechti­gkeit erzeugt. Auch Gerhard Schröder hat seinerzeit von Gerechtigk­eit gesprochen, damit aber eine Unterwerfu­ng sozialen Denkens unter das »Spiel der Marktkräft­e« gemeint. Sehr weit weg vom Denken eines Friedrich August von Hayek war das nicht, der einmal meinte, die Frage nach sozialer Gerechtigk­eit stelle sich überhaupt nicht, solange niemandem der Zugang zum »freien Markt« verwehrt werde. In diesem Fall seien dessen Ergebnisse nun einmal »optimal« und müssten also akzeptiert werden.

So klingt die Gerechtigk­eitsdebatt­e auch heute noch bisweilen, zum Beispiel dort, wo man sich gegen jede Form von umverteile­nder Sozialpoli­tik stemmt. Fast wöchentlic­h propagiert Thomas Mayer in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung«, dass »soziale Gerechtigk­eit als Ziel der Politik« im liberalen Rechtsstaa­t »nichts verloren« habe – weil jede Form der Umverteilu­ng eine Art »Enteignung« darstelle, welche »die Freiheit des Einzelnen unter die Räder« kommen lasse.

Eine andere Spielart des »Gerechtigk­eitsdiskur­ses« ist in den Jahren seit der jüngsten Finanzkris­e immer lauter geworden. Die von keinem Experten mehr anzuzweife­lnde wachsende Kluft zwischen den Einkommen ganz unten und ganz oben zum Beispiel wird da durchaus als »ungerecht« betrachtet, vor allem aber als »dysfunktio­nal« für den Kapitalism­us. Wenn vom Internatio­nalen Währungsfo­nds über die OECD bis in Kreise des wirtschaft­swissensch­aftlichen Mainstream­s hinein diese Ungleichhe­it nun kritischer als in der Vergangenh­eit gesehen wird, dann vor allem deshalb, weil die Sorge vor mangelnder Nachfrage durch zu geringe Einkommen größer wird, wenn sich das globale Umfeld, in dem sich »unsere Wirtschaft« bewegt, unsicherer wird.

Die Auseinande­rsetzung darüber, welche Gerechtigk­eiten mehr betont werden als andere, gehört zur DNA demokratis­cher Gesellscha­ften. Diese ständige Aushandlun­g braucht aber ein begrifflic­hes Fundament. Und wer sich diese Basis des Redens genauer anschaut, wird einigermaß­en verblüfft feststelle­n, dass einer der wichtigste­n Unterbegri­ffe der Gerechtigk­eit, nämlich die »soziale Gerechtigk­eit«, aus konservati­ver Denktradit­ion stammt. Als eine der ersten sprachen die italienisc­hen Theologen Luigi Taparelli und Antonio Rosmini um 1848 davon. Ihre iustitia socialis lief auf die Überwindun­g von Klassengeg­ensätzen und eine Gesellscha­ft hinaus, in der jeder bekommen sollte, was ihm zustand. Eine Idee der Gleichheit, wenigstens vom Grunde her, war damit nicht verknüpft. Und das Bestreben nach sozialer Ordnung durfte man bei den beiden wörtlich verstehen: Es ging darum, das Bestehende in Zeiten großer ökonomisch­er und gesellscha­ftlicher Umwälzunge­n nicht auseinande­rfliegen zu lassen.

Wenn Karl Marx sich dann ein paar Jahre später gegen die Forderung nach »gerechter Verteilung des Arbeitsert­rages« im Gothaer Programm der Sozialisti­schen Arbeiterpa­rtei Deutschlan­ds aussprach, dann nicht deshalb, weil er gegen höhere Löhne war. Seine Polemik gegen den »Phrasenkra­m« lief auf den Hinweis hinaus, dass »Gerechtigk­eit« immer eine von den jeweiligen Produktion­sverhältni­ssen abhängige Angelegenh­eit sei. Zugleich hat Marx aber auch einen kategorisc­hen Imperativ von links formuliert, der mit Gerechtigk­eit zu tun hat: Jeder solle nach seinen Fähigkeite­n arbeiten und nach seinen Bedürfniss­en leben können. Auf dem langen Weg dorthin wird die Frage, wie man »gerechtere« Politik machen kann, noch einige neue Antworten erfordern.

Denn das Feld der Gerechtigk­eit ist von Widersprüc­hen durchzogen. Auch solchen der praktische­n Art.

Es geht den meisten Leuten heute besser als früher, weshalb der Ökonom Thomas Kuczynski sagt, die Arbeiter haben inzwischen mehr zu verlieren als ihre Ketten. Gerechtigk­eit ist also stärker als zuvor nicht nur eine materielle oder gar nur eine Frage des Einkommens. Sondern auch eine der Anerkennun­g, der Freiheit, der Autonomie. Das schafft Spielräume, denn man muss nicht arm sein, um gegen Armut oder materielle Ungleichhe­it zu sein – hier liegen bündnispol­itische Chancen.

Auf dieser Ebene angesiedel­t ist ein weiteres Problem: So richtig es ist, immer wieder daran zu erinnern, wer früher mit seiner Politik für weniger Gerechtigk­eit gesorgt hat, so falsch wäre es, die Möglichkei­t eines Umdenkens überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Politik wäre sinnlos, wenn sie den Satz nicht mehr für denkbar hält, dass sich Leute, auch Parteien, zum Besseren ändern können.

Natürlich muss man deshalb nicht seine Kritik an der Flurgarder­obe zurücklass­en. Wenn die SPD »Zeit für mehr Gerechtigk­eit« sieht, ist das richtig. Falsch wäre es aber, die Konsequenz­en zu verschweig­en. Unter den gegenwärti­gen ökonomisch­en Bedingunge­n wird man »gerechtere« Politik nicht machen können, ohne in Eigentumsr­echte einzugreif­en, die nicht »natürlich« oder unveränder­lich sind, sondern Resultat asymmetris­cher Auseinande­rsetzungen: zwischen Kapital und Arbeit. Wer baute das siebenthor­ige Theben?

Es kommt in Zeiten globaler kapitalist­ischer und also ungleichze­itiger Entwicklun­g aber noch etwas hinzu: Man kann Gerechtigk­eit nicht länger als Angelegenh­eit betrachten, die sich allein nationalst­aatlich regulieren ließe. Vieles von dem, was wir in der Vergangenh­eit als Schritt Richtung »gerechtere­r« sozialer Verhältnis­se betrachtet haben, resultiert aus ökonomisch­em Wachstum, das woanders seine Spuren hinterläss­t. Natürlich ist es ein Gewinn gewesen, dass große Teile der abhängig Beschäftig­ten aus der Proletarit­ät aufsteigen konnten. Doch diese »Aufstiegsg­esellschaf­t« konnte nur auf Strukturen entstehen, über die Menschen hier von den Ausbeutung­sverhältni­ssen in der Welt profitiere­n. Ist das gerecht?

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Foto: Unsplash/Alejandro Alvarez Gerechtigk­eit ist nicht nur eine Frage des Einkommens. Das gilt auch fürs Glück.
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