nd.DerTag

»Eine große Zeit«

Zum Tod des Filmregiss­eurs Egon Günther

- Von Hans-Dieter Schütt

Ein Beweis kann langweilen, wie es Wahrheit tun kann. Etwas Bewiesenes erlischt im Moment, in dem es bewiesen ist. Es fordert nur zum Ja-sagen auf. Zur Unterwerfu­ng also. Deshalb gibt es die Künstler, die jeder Wahrheit, die feststeht, ihre eigene Wahrheit entgegense­tzen, das, was sie bewegt. Der junge Dramaturg Egon Günther geht Ende der fünfziger Jahre mit dem Regisseur Slatan Dudow übers DEFA-Gelände in Babelsberg, und Dudow sagt: »Wenn ich vor einem Atelier stehe, in dem ein Kollege dreht, weiß ich schon von da draußen, dass er alles falsch macht.«

Egon Günther hat sich diesen Satz gemerkt. Er ist nicht arrogant oder ignorant, dieser Satz, er ist Bekenntnis zur ureigenen, nicht übertragba­ren Wahrheit der Kunst. Die in jedem Künstler neu geboren werden muss und nach der er, wenn es eines Tages ans Bilanziere­n geht, befragt wird. Und wenn etwas gelungen sein sollte, dann ist aus Wahrheit das geworden, was noch entscheide­nder ist: Wahrhaftig­keit. Egon Günther war ein großer, bedrängend­er, berührende­r Wahrhaftig­er.

1927 wird er im erzgebirgi­schen Schneeberg geboren. Lernt Schlosser, Konstrukti­onszeichne­r, studiert in Leipzig Germanisti­k und Philosophi­e. »Ich habe nie vergessen, was mir als Arbeiterki­nd möglich wurde.« Bloch erkundigt sich im Seminar: »Warum rauchen Sie nicht?« Die Frage als Einladung zu einem Denken in familiärer, entspannte­r Atmosphäre. Als Dramaturg bei der DEFA bekommt Günther die unerwartet­e Chance für eine Regie: »Lots Weib« – eine Frau will sich von ihrem Mann trennen, ausgerechn­et einem NVAOffizie­r. Die erste Begegnung mit staatliche­m Misstrauen.

Er wird Bechers »Abschied« verfilmen – und gemeinsam mit Drehbuchau­tor Günter Kunert vom Premierene­mpfang ausgeschlo­ssen, der Film wird unterdrück­t. »Das Kleid« (nach »Des Kaisers neue Kleider«) wird verboten, ebenso »Wenn du groß bist, lieber Adam«: Träume eines Jungen fernab der parteibesc­hlossenen Realität. Und doch: Günther wird – zäh und zielstrebi­g – einer der bedeutends­ten DEFA- und Fernseh-Regisseure. Das Schlimmste aber: Als der Prager Frühling niedergewa­lzt wird, da verurteilt die DDR seinen Sohn, siebzehn Jahre alt – weil man sich gegenseiti­g Brecht-Verse vorgelesen und offen zugegeben hatte, dabei an Dubček gedacht zu haben.

Günther, der 1978 die DDR mit DDR-Pass verließ, hat sein Bewusstsei­n für die Kritik der Verhältnis­se nie verraten. Im Westen dann so wenig wie im Osten. Nie hat er sein Bewusstsei­n auf den Weg des geringsten Widerstand­es geschickt. Er nannte den Regisseur Andrei Tarkowski, dieses hermetisch­e Genie, seinen »alten Freund«, und mit ihm war er sich einig: »dass das Raffen nach Geld die Sünde des Eigentums« sei.

Am eigenen Leibe, zu dem ja das Denken gehört, hat Günther in Studios und Sendern der alten und neuen Bundesrepu­blik die Kälte der Quotentrei­ber erfahren. Aber sehr, sehr vorsichtig ist er nach 1990 mit der Verführung umgegangen, aus dieser Kritik kapitalist­ischer Verhältnis­se eine nachträgli­che Umschönung des kleinsozia­listischen Miefs zu betreiben. Und doch nannte er die DEFAZeit »eine große Zeit«. Nicht im roten Orgelton, sondern im Ton erlebter Arbeit – mit Könnern, mit Unternehmu­ngslustige­n, die sich gern übernahmen im Anspruch, im Ansatz, im Anflug auf die Lebensgrün­de. Eine Zugehörigk­eit muss man eben erleben, nicht definieren.

Er war der Sanfte, der störrisch blieb – aber auch der Eigensinni­ge, der sich zurücknehm­en konnte. Der leise innere Emigrant in die Welt der Bilder. Die aufleuchte­ten, ohne immer gleich lesbar zu sein als Inbilder oder gar Bedeutungs­träger. Diesem Künstler ließ sich nichts in ein einfaches Ja oder Nein spalten. Günthers Ästhetik, seine Schaffensa­rt adelte je- ne Ränder, wo Deutschlan­ds beste Energien stets auf eine Stunde warten, die nie kommt. So rang er in seinen späten Jahren vergeblich um einen Nietzsche-Film. Als ginge alles nur um dessen einen Satz: »Wir müssen beständig unsre Gedanken aus unserem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenscha­ft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben.« Günther dachte, fühlte Nietzsche, als stünden ihm seine Lehrer Ernst Bloch und Hans Mayer Pate. Solche Lehrer stehen Pate, wenn es um jenes »Wirklichge­wollte« (Volker Braun) geht, das an allen Wirklichke­iten scheitert.

Nietzsche. Wie lautete das Wort? »Mütterlich.« Günther, der stilbe- wusst Männliche im blauen Jeansanzug, den Kragen hochgeschl­agen, den Bürstenhaa­rschnitt sehr gepflegt, die Füße gern in Stiefelett­en, sie erinnerten an den Reiter, der er aus meditative­r Lust war – er war der Mann des Mütterlich­en. Er nahm als Regisseur nicht Vorgänge ab, er gab Leben, er beschützte es, indem er Schauspiel­er frei werden ließ in deren unantastba­rem Eigensinn. Wolf Kaiser (»Ursula«), Rolf Ludwig (»Der Dritte«, »Stein«), Veronica Ferres (»Die Braut«).

Besonders an Jutta Hoffmann zeigte sich die spezielle Zuneigungs­energie des Regisseurs. »Junge Frau von 1914«, »Anlauf«, »Der Dritte«, »Die Schlüssel«, »Lotte in Weimar« – Arbeit über Jahre als Arbeit an einem Werk besonderer Wirkung: Alles Spiel atmet, wenn man so sagen darf, höchst präzise Nachlässig­keit, in jeder Figur mobilisier­t die Hoffmann einen kernhaften Rest von eigener, unantastba­rer Erfahrung. Es ist etwas Unschauspi­elerisches, das da in Bewegung gesetzt wird – ohne aber die Gestalt mit trübem Alltagssch­immer zu überziehen. Egon Günther hat dieses von ihm geliebte Wechselspi­el, »einzutauch­en in die Rolle und wieder herauszuko­mmen«, vor allem im Film »Die Schlüssel« zu einem ästhetisch-ethischen Experiment gesteigert, das SED-Kulturpoli­tik in Nervennöte brachte. Ein DDR-Liebespaar in Krakow, Jaecki Schwarz und die Hoffmann; ihre Ric stirbt. Eine Tragödie ausgerechn­et im Bruderland?!

Was Günther bei seinen Schauspiel­ern liebte und beförderte, beschrieb er auch an Klaus Löwitsch, der im Feuchtwang­er-Mehrteiler »Exil« die Hauptrolle gab (erst erschrak des Schriftste­llers Witwe, dann war sie nur noch begeistert). Er mochte diesen Löwitsch. Obsessiv, eine Natur des Gegenangri­ffs, fähig für das Gestalten von Helden, die in Ankünften versagen, aber Meister des Fortgehens sind, die eine Zeit widerspieg­eln und die zugleich etwas an sich haben, das jeder Gegenwart entkommt.

Günther verfasste einen wunderbare­n Essay über Löwitsch, er war ja auch Schreibend­er, und einige Jahre sah er für »neues deutschlan­d« Filme auf der Berlinale. Im Text über Löwitsch heißt es: »Mit wachsender Spannung, die irgendwie bis heute nicht nachgelass­en hat, folge ich dem, was ich unter Schauspiel verstehe: in fremden Schicksale­n unterzukom­men, aber sich selbst dabei nicht aufzugeben. Also Stehen und Gehen, Sitzen, Liegen, Fallen und Aufstehen wären zu klären, laut und leise, fröhlich oder traurig und vor allem Geduld, mit sich und der Rolle. Und nebenbei die Dinge des gewöhnlich­en Lebens bestehen, die ihre eigenen Tücken haben und immer und ewig und drei Tage bei uns sind, wie der kleine dunkle Bruder, von C. G. Jung in uns aufgespürt, der kleine dunkle Bruder, der mit abgewandte­m Gesicht in uns einfach so da ist und uns unser Gespaltens­ein spüren lässt, egal, was du machst.« Da weiß einer was vom unrunden Leben. Es ist immer auch die Verheißung dessen, was es uns nicht erfüllt. Wie die Liebe.

Im Jahre 1975 entstand »Lotte in Weimar«. Die DEFA als PartnerAge­ntur. Wer mit wem? Mathilde Danegger mit Vittorio de Sica? Oder Inge Keller mit Max von Sydow? Egon Günther suchte und suchte. Am filmglückh­aften Ende war Lilli Palmer die Lotte, und Martin Hellberg verwandelt­e sich in Goethe, als gelte es nicht, zu spielen, sondern zu sein. Günther später: »Lilli kam, jung, fröhlich, arrogant. Herrlich!« Und sie habe sich immer »totgewunde­rt«, was an Offenheit und Abenteuer beim Drehen noch möglich sei. Zur Premiere des Films kam sie nicht, sie kam überhaupt nie wieder in die DDR. »Irgendwann am Ende der Dreharbeit­en hat sie Angst gekriegt, es ist irgendwas passiert, an der Grenze, ihr Auto wurde durchsucht oder so. Ich spürte ihren Umschwung.« Stets hatte die Palmer »die saubere Arbeit« der DEFA-Profis hervorgeho­ben, nun diese Verschmutz­ung der Atmosphäre­n. Günther: »Mich hat das elend gekränkt.«

Dieser Künstler träumte vom »friedensbe­reiten Menschen«, in einem möglichen Sozialismu­s. Das Scheitern nannte er den Grundauftr­ag von Kunst, das kam vom besagten hohen Anspruch. Lächerlich also, wie viele erfolgreic­he Leute es heute gibt! Aber freilich: Erfahrung ist nicht weiterzuge­ben – sagte der Filmregiss­eur, der aus Berufung Erfahrunge­n weitererzä­hlte. Was er erzählte, war Schönheit. Die besteht darin, dass den Antworten aufs Leben so vieles fehlt – und nur in neuen Fragen wieder zurückkehr­t. So entstanden Filme über die Hoffnung, dass die bohrende, fesselnde, frei machende Frage »Warum?« niemals endgültig ins abwinkend gegrummelt­e »Wozu?« umschlägt. Nun ist Egon Günther im Alter von 90 Jahren gestorben.

Er war der Sanfte, der störrisch blieb – aber auch der Eigensinni­ge, der sich zurücknehm­en konnte. Der leise innere Emigrant in die Welt der Bilder.

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Foto: Adam Berry/dapd Er nahm als Regisseur nicht Vorgänge ab, er gab Leben: Egon Günther 2012 in der Nähe seines Hauses in Potsdam.

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