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Deutschlan­d steckt in Sachen Mafia in der Steinzeit

Die Autorin und Mafiaexper­tin Petra Reski über ihren neuen Roman »Bei aller Liebe«, die Stadt Venedig und Jakob Augsteins Bärendiens­t am Journalism­us

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In Ihrem neuen Roman mit der Anti-Mafia-Staatsanwä­ltin Serena Vitale in der Hauptrolle geht es – natürlich – um die Mafia in Italien und Deutschlan­d. Aber nicht nur: Sie machen auch Flüchtling­e und den Umgang mit ihnen zum Thema. Wie hängen die beiden Dinge zusammen?

Es geht erst seit kurzer Zeit durch die deutsche Presse, dass sich mit der Flüchtling­skrise für die Mafia ein neues Geschäftsf­eld eröffnet hat: Sie verdient ihr Geld als Betreiber von Aufnahmeze­ntren, zumal dazu die klassische­n Standbeine der Mafia wie Baugewerbe, Catering oder Sicherheit­sdienste gehören. Für jeden Flüchtling, der in Italien ankommt, zahlt der italienisc­he Staat pro Tag zwischen 35 und 38 Euro, für Minderjähr­ige sogar 80 Euro: Ein Kopfgeld für die Mafia – damit wurden bereits Millionen veruntreut. Die Bosse betrachten die Flüchtling­e als eine Art Rohstoff, den sie für Schwarzarb­eit, Prostituti­on oder Drogenhand­el ausbeuten können.

Das Thema Flüchtling­spolitik ist in Italien und Europa hochaktuel­l, nicht zuletzt wegen des Streits um die Seenotrett­ung im Mittelmeer. Warum spielt das Geschäft der Mafia mit den Geflüchtet­en in der politische­n Diskussion kaum eine Rolle?

Die wenigsten wissen davon, obwohl das eine Geschichte ist, die in Italien schon ziemlich lange dauert. Die Mafia hat sich schon vor Jahren auf die Flüchtling­skrise vorbereite­t: Ein abtrünnige­r Mafioso hat ausgesagt, dass die Bosse in Sizilien vor zehn Jahren leerstehen­de Lagerhäuse­r, Kasernen usw. aufgekauft haben. Wenn man nun bedenkt, dass sich die Mafia und ihre Geschäfte in Italien und Deutschlan­d nicht wesentlich unterschei­den, stellt sich die Frage, warum die Mafia nicht auch in Deutschlan­d an den Flüchtling­en verdienen sollte. Sie machen kein Geheimnis daraus, dass in Ihre literarisc­hen Werke handfeste Recherchen einfließen. Bei Veröffentl­ichung des ersten Buches der Vitale-Reihe zitierten Sie auf Ihrem Blog Luis Aragon mit den Worten: »Ich lüge, um die Wahrheit zu erzählen.« Das heißt, einige Leute müssten sich in Ihren Büchern wiedererke­nnen. Haben Sie Leserbrief­e von Mafiosi oder auch anderen bekommen?

Ich würde mich wundern, wenn sie mir schreiben würden: »Ich habe mich da erkannt« (lacht). Ich denke eher, dass sie versuchen würden, mich zu verklagen. Aber das ist bei einem Roman juristisch viel schwierige­r als bei einem journalist­ischen Text. Immerhin gibt es in Deutschlan­d die Kunstfreih­eit.

Wie ähnlich sind Ihre Figuren denn den realen?

Es ist nicht so, dass ich einfach einen Mafioso nehme und dem eine andere Augenfarbe gebe. Die Romanfigur­en sind erfunden, das ist reine Fiktion. Aber die Fakten haben mich natürlich für die Geschichte­n inspiriert, wie eben jetzt das Geschäft der Mafia mit den Flüchtling­en. In »Die Gesichter der Toten« war es das Geschäft mit der Windenergi­e, in »Palermo Connection« der große Prozess um die Verhandlun­gen zwischen der Mafia und dem italienisc­hen Staat in der Zeit der Attentate, die sich jetzt zum 25. Mal jähren.

Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Leser Ihre intertextu­ellen Bezüge wahrnehmen, also die realen und wahren Geschichte­n wiedererke­nnen?

Wer es erkennt: gut. Derjenige hat einen Mehrwert. Aber eigentlich dienen die Bezüge eher der Geschichte und dem Ambiente. Die Geschichte muss glaubhaft sein und funktionie­ren, damit dem Leser klar wird, in welcher Welt Antimafia-Staatsan- wälte wie die von mir geschaffen­e Serena Vitale leben. Das ist der Kontext, der ist wichtig.

Intertextu­elle Bezüge sind durchaus etwas Subversive­s. Inwiefern nutzen Sie dieses Stilmittel auch als Taktik bei der Flucht aus dem angreifbar­eren Journalism­us?

Die Literatur eröffnet Möglichkei­ten, die der Journalism­us nicht bietet. Gerade was die Psychologi­e der Figuren betrifft. In einem journalist­ischen Artikel kann man davon nicht viel unterbring­en, nicht mal andeuten, ohne Gefahr zu laufen, Unterstell­ungen zu machen. Dabei sind gerade die Abgründe das eigentlich Spannende. Die Abgründe, die sich bei den einzelnen Figuren rund um die Auseinande­rsetzung zwischen der Mafia und der »anständige­n Gesellscha­ft« auftun, sind viel interessan­ter als die Mafiosi selbst. Zu beschreibe­n, wie es der Mafia gelingt, ganze Gesellscha­ften oder einzelne Individuen dazu zu bringen, ihre moralische­n Überzeugun­gen über den Haufen zu werfen, das ist wirklich spannend.

In Ihrem aktuellen Buch wird ein deutscher Staatsanwa­lt tot in Sizilien aufgefunde­n. Serena Vitale sträubt sich zunächst dagegen, sich der Sache anzunehmen. Warum dieser drastische Einstieg?

Ja, ich habe zum ersten Mal diesen klassische­n Krimi-Einstieg mit einer Leiche gewählt, aus dem einfachen Grund, weil in mir immer ein Satz nachgeklun­gen hat, den einmal ein Polizist gesagt hat: Solange in Deutschlan­d kein Staatsanwa­lt oder Polizist ermordet wird, passiert gar nichts im Kampf gegen die Mafia. Dann habe ich gedacht: Machen wir das doch mal.

Glauben Sie, dass es in der Realität bald auch so weit ist?

Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen muss. Die Aktivitäte­n der Mafia werden in der Berichters­tattung immer präsenter. In den letzten Wochen kamen diverse Fälle in Deutschlan­d und Italien an die Öffentlich­keit, seien es Festnahmen im Schwarzwal­d Ende Juni, die Verwicklun­g der Camorra in Waldbrände am Vesuv oder Anti-Mafia-Konferenze­n wie jüngst in Berlin, an denen sogar die Innenminis­ter beider Staaten teilgenomm­en haben. Reicht das?

Meiner Meinung nach verbirgt sich dahinter der Wahlkampf. Ich würde mir ja sehr wünschen, dass die Ankündigun­gen, die bei solchen Veranstalt­ungen gemacht werden, auch in die Tat umgesetzt werden. Aber ich bin da skeptisch, gerade was das Vorhaben angeht, bereits die Mafia-Zugehörigk­eit unter Strafe zu stellen.

Im Gespräch sind die Beweislast­umkehr sowie die Möglichkei­ten für Beschlagna­hmungen auszuweite­n. Innenminis­ter Thomas de Maizière erklärte zudem, Paragraf 129 zur Verfolgung kriminelle­r Vereinigun­gen sei bereits angepasst. Ist die Bundesregi­erung auf dem richtigen Weg?

Ich habe mit deutschen Staatsanwä­lten gesprochen und die sind skeptisch: Auch in der Neufassung des Gesetzes kommt das Wort Mafia nicht vor. Sie stellen immer wieder fest, dass die Möglichkei­ten zur Verfolgung der Mafia in Deutschlan­d nicht annähernd mit denen in Italien vergleichb­ar sind. In Italien kann man schon Güter konfiszier­en, sobald die Clan-Zugehörigk­eit von einer bestimmten Zahl von Quellen bestätigt ist. Solch eine präventive Beschlagna­hme ist in Deutschlan­d undenkbar. Dabei betonen alle Anti-MafiaStaat­sanwälte, dass man die Mafia nur beim Geld treffen kann.

Wichtig scheint mir auch, dass die konfiszier­ten Güter von Initiative­n wie Libera verwaltet werden, die den zivilgesel­lschaftlic­hen Kampf gegen die Mafia führen. Passiert auf der Ebene der Zivilgesel­lschaft auch zu wenig in Deutschlan­d? Deutschlan­d befindet sich in Sachen Mafia in einem prähistori­schen Zustand. Gerade haben sich die Morde von Duisburg vom 15. August 2007 zum zehnten Mal gejährt. Darüber wurde viel Tinte vergossen – aber vergessen, dass italienisc­he Staatsanwä­lte dabei gescheiter­t sind, die Güter der Täter in Deutschlan­d zu beschlagna­hmen. Damals erschienen sogar Artikel, in denen den Tätern die Gelegenhei­t gegeben wurde, sich zu rechtferti­gen und anzukündig­en, dass sie gerne wieder ihre Pizza Romana am Niederrhei­n backen würden. Wir sind in Deutschlan­d in einer Art Steinzeit, was das Bewusstsei­n für das Problem betrifft.

»Solange in Deutschlan­d kein Staatsanwa­lt oder Polizist ermordet wird, passiert gar nichts im Kampf gegen die Mafia.«

Werden auch Journalist­en nicht der Verantwort­ung gerecht, diesem Thema mehr Aufmerksam­keit zu widmen?

Na ja, für Journalist­en ist es erst einmal – das weiß ich aus eigener Erfahrung – ziemlich schwer, weil die sogenannte Verdachtsb­erichterst­attung, die in Deutschlan­d extrem eng definiert ist, letztlich nur ermöglicht, über bereits erfolgte Urteile zu referieren. Und wenn man als Journalist nur über bereits erfolgte Urteile berichten kann, dann kann man über die Mafia gar nichts schreiben. Und selbst wenn man nur Gerichtsbe­richtersta­ttung macht, kann man Pech haben und verurteilt werden, so wie ich. Mit mir und meinen Auseinande­rsetzungen soll ein Exempel statuiert werden, damit sich andere Journalist­en fragen: Soll ich mir das jetzt antun?

Und auch die Redaktion fragt schon im Vorfeld: Sollen wir so eine Geschichte überhaupt machen? Denn die Wahrschein­lichkeit verklagt zu werden ist hoch. Gerade in diesen Zeiten, wo im Journalism­us an je-

dem Euro gespart wird, fällt das Thema Mafia unter den Tisch.

Sie sprechen Ihre Auseinande­rsetzung mit dem »Freitag« an. Sie schrieben für die Wochenzeit­ung über einen Erfurter Gastronome­n und einen MDR-Bericht zur »Mafia in Mitteldeut­schland«. Sowohl der MDR als auch Sie wurden von dem namentlich genannten mutmaßlich­en Mitglied der der kalabrisch­en Mafia ’Ndrangheta verklagt. »Freitag«-Verleger Jakob Augstein warf Ihnen daraufhin »mangelhaft­e Recherche« vor. Was bedeutet das Vorgehen Augsteins gegen Sie für den Journalism­us?

Er hat den Journalist­en in Deutschlan­d einen Bärendiens­t erwiesen, eindeutig. Die Mafia freut sich, die bejubelt ihn.

Der Fall ist noch nicht abgeschlos­sen. Sie haben inzwischen Klage auf Beschädigu­ng Ihres Persönlich­keitsrecht­s gegen Augstein eingereich­t, am 29. September soll es zur Verhandlun­g kommen. Zudem wehren Sie sich weiter gegen den Erfurter Gastronom. Ende Juni war bereits der MDR vor dem Erfurter Landgerich­t erfolgreic­h, die Schadeners­atzklage wurde abgewiesen. Was erhoffen Sie sich von der weiteren gerichtlic­hen Auseinande­rsetzung?

Die Begründung im Fall des MDR ist mindestens kurios, weil sie dem vorhergehe­nden Urteil widerspric­ht: Entweder ist die Verdachtsb­erichterst­attung möglich oder nicht. Nun bleibt abzuwarten, was die Richter in meinem Fall sagen. Immerhin ist der Kläger bereits mit dem Versuch gescheiter­t, das Gericht dazu zu bringen, noch einmal eine Geldstrafe über mich zu verhängen.

Wie sehr belasten Sie persönlich solche Verfahren und eine ständige Bedrohungs­lage durch Mafia-Angehörige?

Natürlich sind Prozesse immer belastend. Immerhin habe ich mich inzwischen daran gewöhnt, dass alles, was ich von mir gebe – sei es in Artikeln, im Blog, auf Facebook, Twitter oder wie auch immer – gesammelt wird. Der Anwalt meines Klägers hat die Gerichte mit Hunderten von Seiten überschwem­mt, darunter auch sehr komische Sachen, etwa als ich in meinem Blog über Mafia und Literatur schrieb, dass ich Tarantinos »Inglourios Basterds« sehr inspiriere­nd fand. Daraus hat der Anwalt meines Klägers auf eine gewisse Blutrünsti­gkeit meinerseit­s geschlosse­n. Natürlich wird damit beabsichti­gt, mich zum Schweigen zu bringen. Aber glückliche­rweise hat das Gericht bestätigt, dass man mir nicht verbieten kann, über die Mafia in Deutschlan­d zu reden.

Haben Sie und Ihre Kollegen in Italien dieselben Probleme?

In Italien werden die Journalist­en reihenweis­e verklagt. Die Mafia versucht, hohe Entschädig­ungssummen, zum Teil sogar Millionen, einzuklage­n. Aber im Unterschie­d zu Deutschlan­d verlieren die Journalist­en in Italien diese Prozesse nicht.

Vor wenigen Wochen haben sich die Morde an den bekannten Anti-Mafia-Staatsanwä­lten Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zum 25. Mal gejährt. Ist die Bedrohung von Mafia-Bekämpfern heute allein eine finanziell­e oder gibt es nach wie vor physische Angriffe?

In Süditalien ist es nach wie vor so, dass Journalist­en das Auto angezündet oder bei ihnen eingebroch­en wird. Viele leben unter Polizeisch­utz. Das »Osservator­io Ossigeno per l’informazio­ne« von Alberto Spampinato dokumentie­rt diese Angriffe. Und es ist ein gewaltiger Fortschrit­t, dass die italienisc­hen Kollegen ihre Prozesse nicht verlieren. Wenn ich italienisc­hen Journalist­en oder Staatsanwä­lten erzähle, was ich in den letzten Jahren in Deutschlan­d erlebt habe, ernte ich nur Kopfschütt­eln. Das kann man in Italien kaum glauben.

Wie wichtig ist es, dass die Betroffene­n dennoch weitermach­en? Roberto Saviano ist ja nur einer von vielen, die unter Polizeisch­utz leben und dennoch Mafia-Aktivitäte­n recherchie­ren und veröffentl­ichen. Es gibt in Italien sehr viele gute Investigat­ivreporter, die all die Missstände bekannt machen. Es ist wichtig, dass immer wieder über die Geschäfte der Mafia berichtet wird, ge-

rade im heutigen Italien, in dem aufgrund der schlechten Wirtschaft­slage eine Art Raubtierka­pitalismus herrscht. Das ist der beste Moment für die Mafia.

Die italienisc­he Wirtschaft­skrise spielt der Mafia in die Hände. Weil die Banken kaum Kredite geben, gibt es gerade in Norditalie­n reihenweis­e Fabriken, kleine Unternehme­n, oft Familienun­ternehmen, die von mafiosen Wucherern in den Ruin getrieben wurden, bankrottge­gangen sind und nun der Mafia gehören. Die Mafia hat gerade einen großen Entwicklun­gssprung gemacht.

Ihre Buchreihe spielt allerdings nicht im Norden Italiens, auch nicht im Kernland der ’Ndrangheta in Kalabrien oder rund um Neapel bei der Camorra, sondern auf Sizilien. Die

Insel ist das bekanntest­e Mafiagebie­t. Ist Ihnen die Heimat der Cosa Nostra nicht zu klischeebe­laden?

Es liegt daran, dass ich Palermo am besten kenne. Die Stadt ist in Italien neben Venedig meine zweite Heimat. Zudem waren Sizilien und die Cosa Nostra immer schon ein Laboratori­um für kriminelle Strategien im Verbund mit Politik und Wirtschaft. Was ihre politische­n Verbindung­en betrifft, hatte die sizilianis­che Cosa Nostra den anderen Mafia-Organisati­onen immer etwas voraus. Das fand und finde ich sehr interessan­t. Und jetzt im Moment angesichts der Flüchtling­skrise ist natürlich klar, dass Sizilien das Ziel Nummer eins ist.

Gleichzeit­ig gab es in Sizilien auch besonderen Widerstand gegen die Mafia – erinnert sei nur an den Kommuniste­n Peppino Impastato, der von der Cosa Nostra ermordet wurde. Müsste sich die Linke auch heute den Antimafia-Kampf stärker auf die Fahnen schreiben?

Es gibt ja keine Linken mehr (lacht). Jedenfalls nicht das, was ich darunter verstehen würde. Es gibt ebenso viele »linke Politiker«, die mit der Mafia zusammenar­beiten, wie rechte Politiker. Die einzigen, die davon noch frei sind, sind jene vom Movimento Cinque Stelle (Fünf-SterneBewe­gung von Beppe Grillo, A. d. Red.). Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis auch sie unterwande­rt sind, Versuche dazu gibt es schon.

Sie haben sich in den vergangene­n Jahren immer wieder zur FünfSterne-Bewegung geäußert, sie gegen Anfeindung­en in Italien sowie aus Deutschlan­d verteidigt. Sie unterstütz­en auch einige Anliegen der Partei. Welche Hoffnung haben Sie in die »Bewegung«? Ich setze Hoffnungen in den Geist der Cinque Stelle – die Anfänge lagen in Grillos »Meetups«, in kleinen Zellen von Bürgerinit­iativen, wenn man so will. Da gab es eben welche, die sich in Venedig gegen die Kreuzfahrt­schiffe gewendet haben oder gegen Großprojek­te wie die Adria-Pipeline TAP. Wieder andere haben sich bei Anti-Mafia-Organisati­onen engagiert. Dass sie sich diesen Geist bewahren, ist auch eine Hoffnung von vielen jungen Italienern. Sie wollen eine Alternativ­e zu denjenigen, die Italien in den letzten 25 Jahren regiert haben.

Die Fünf-Sterne-Bewegung wird allerdings nicht unkritisch betrachtet, gerade außerhalb Italiens, auch in Deutschlan­d. Sie gilt als »europafein­dlich«, ihr Chef Beppe Grillo als Populist.

Sie wird kritisiert, weil viele Korrespond­enten ihr »Copy and Paste« aus der italienisc­hen Regierungs­presse als politische Analyse verkaufen. Ich habe noch keinen Artikel gelesen, der versuchen würde, einmal zu erklären, was sich überhaupt dahinter verbirgt. Wir reden hier von einem Land, das 30 Jahre lang von Andreotti regiert wurde, einem Mann, der mit der Mafia zusammenge­arbeitet hat. Und die nächsten 25 Jahre von Berlusconi, einem Mann, der von der Mafia eingesetzt wurde, um dort zu sitzen, wo er saß. Jetzt regiert ein Mann, der sich einer großen Freundscha­ft zu Berlusconi erfreut und mit ihm gerne zusammen weiterregi­eren möchte. Angesichts dessen kann man verstehen, dass die Italiener sich nach einer Opposition sehnen. Und das ist eben zurzeit Cinque Stelle.

Nun haben wir über viel Negatives in Italien gesprochen. Trotzdem leben Sie weiter in Venedig. Was hält Sie dort?

Was wäre denn die Alternativ­e? Wieder nach Deutschlan­d zurückzuko­mmen? Nein, ich bin wahrschein­lich nicht mehr integrierb­ar.

Das müssen Sie erklären. Ist der Kaffee zu schlecht?

Der Kaffee ist nur ein Grund. Mir ist die italienisc­he Kultur vertrauter, weil ich in einer schlesisch-ostpreußis­chen Großfamili­e katholisch­er Prägung aufgewachs­en bin. In Deutschlan­d herrscht aber mehr das Protestant­isch-Calvinisti­sche. Und das ist mir fremd. Eine Ausnahme ist München, da geht es mir wie den Italienern: Sie mögen die Stadt so sehr, weil sie es für eine Art besseres Italien halten. Ist Bayern ja auch, mit der CSU, wie man sieht (lacht). In Venedig zu leben, empfinde ich aber trotz allem, trotz der 33 Millionen Touristen, als großes Privileg. Wenn man in der Antarktis leben müsste, wäre es schlimmer (lacht).

Sie sprechen es an: In Venedig zeigt sich, wie der Tourismus eine Stadt zerstören kann. Sind Sie als Anwohnerin wütend über die Entwicklun­g?

Sie ist das Ergebnis der Stadtpolit­ik, eines unfassbare­n Zynismus und des Neoliberal­ismus pur, der sich vor unseren Augen abspielt. Alles wird verscherbe­lt und privatisie­rt. Der linke Bürgermeis­ter Massimo Cacciari hat dafür in den 1990ern den Weg geebnet. Heute heißt das Zauberwort »Nutzungsbe­stimmung«. Die Unterschri­ft eines Bürgermeis­ters genügt und ein denkmalges­chützter Palazzo kann ruckzuck in ein Einkaufsze­ntrum umgewandel­t werden.

Würden Sie Menschen noch raten, nach Venedig zu fahren?

Die Venezianer wünschen sich Besucher, die sich für die Stadt interessie­ren – und nicht nur für ein Selfie am Markusplat­z. Die meisten rennen durch die Stadt wie durch ein kostenlose­s Disneyland. Es gibt viele Venezianer, die sagen: Wir möchten eigentlich auch gerne Geld dafür haben, dass wir die Statistenr­olle einnehmen und das Ganze noch ein bisschen beleben. Venedig hätte sich noch vor wenigen Jahren anders entwickeln können. Dank der heutigen Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten war es kein logistisch­er Nachteil mehr, sich im Wasser zu befinden. Man hätte große Gebäude nicht in Hotels umwandeln müssen, man hätte auch Unternehme­n anlocken können, wie in Berlin zur Zeit der Mauer, mit Steuererle­ichterunge­n. Aber man wollte das nicht, man wollte Venedig genau zu dem Freizeitpa­rk machen, der es jetzt ist.

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Foto: Shobh Die in Venedig lebende Autorin Petra Reski vor einer gesprühten Parole, die Journalist­en mit Terroriste­n gleichsetz­t
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Foto: imago/imagebroke­r Immer mehr Wohnungen in Venedig werden zu Unterkünft­en für Touristen.

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