nd.DerTag

Fit für die Katastroph­e?

Thesen zu den neuen Herausford­erungen an die humanitäre Hilfe.

- Von Thomas Gebauer

1.

In den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n haben sich die Rahmenbedi­ngungen für Hilfe zum Teil dramatisch verändert. Sowohl in ihrer Zahl als auch in ihrer Intensität haben Katastroph­en und Krisen zugenommen. Inzwischen ist von sog. protrahier­ten Krisen die Rede, deren Wirkungen mitunter erst verzögert, dann aber in der Regel über einen längeren Zeitraum hinweg auftreten. Herkömmlic­hes entwicklun­gspolitisc­hes Handeln wird unter diesen Umständen zunehmend in Frage gestellt.

2.

Zu den Naturkatas­trophen, wie Erdbeben oder Überschwem­mungen, ist eine Vielzahl von »man-made« Desastern hinzugekom­men, die ihre Ursachen im Klimawande­l, in zunehmende­r sozialer Ungleichhe­it, in Staatsaufl­ösung und/oder Kriegen finden. Nicht selten sind es multiple Krisen, die sich vor diesem Hintergrun­d herausbild­en.

Exemplaris­ch verdeutlic­ht der Ausbruch von Ebola, wie sich eine einzelne Krise zu einem multiplen Krisengesc­hehen aufschauke­ln kann, das schließlic­h alle gesellscha­ftlichen Sphären tangiert: den Bildungsse­ktor, die Ernährungs­sicherheit, die Wirtschaft­skraft, das Sozialgefü­ge. Solche multiplen Krisendyna­miken treten heute vermehrt auf.

Nicht zuletzt die millionenf­ache Flucht und Migration von Menschen ist Ausdruck und Folge eines sich immer mehr verfestige­nden multiplen Krisengesc­hehens.

3.

Mit der Globalisie­rung ist die Welt fraglos näher zusammenge­rückt, doch zeigt sie sich heute gespaltene­r denn je. Dem globale Norden mit seiner wirtschaft­lichen, technologi­schen und kulturelle­n Vorherrsch­aft stehen heute wachsende Zonen des Elends, der Demütigung und Gewalt gegenüber: der globale Süden. Und der hat sich längst auch in den Vorstädten Nordamerik­as und Europas ausgebreit­et.

Es sind zwei gegenläufi­gen Bewegungen, die die bisherige Globalisie-

Thomas Gebauer ist Geschäftsf­ührer von medico internatio­nal. Die Organisati­on mit Sitz in Frankfurt am Main leistet seit fast 50 Jahren Hilfe für Menschen in Not und arbeitet an der Beseitigun­g der strukturel­len Ursachen von Armut und Ausgrenzun­g. Gebauers Thesen sind zuerst im medico-Blog erschienen: www.medico.de/blog. Foto: imago/Jürgen Heinrich

rung bestimmt haben: einerseits ist die Welt zu einem globalen System integriert worden, wodurch erstmals die Möglichkei­t weltgesell­schaftlich­er Verhältnis­se aufscheint, anderersei­ts wurden große Teile der Weltbevölk­erung, für die es in eben diesem System keinen Platz zu geben scheint, sozial ausgegrenz­t. Sie wurden zu »Redundant People«, wie es im Englischen heißt: zu Menschen, die in den weltwirtsc­haftlichen Zusammenhä­ngen nicht mehr gebraucht werden, die »überflüssi­g« sind. Viele von ihnen überleben in einer auf Dauer gestellten Lagerexist­enz.

4.

Dieser dramatisch­e Zuwachs von Ungleichhe­it ist kein Betriebsun­fall, sondern unmittelba­re Folge der marktradik­alen Umgestaltu­ng der Welt sowie der Schrumpfun­g der Arbeitsmär­kte durch Einführung neuer Technologi­en. Das Verspreche­n, dass dabei auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich als Trugschlus­s erwiesen. Statt zu einem Trickle-downEffekt kam es zu dessen Gegenteil, zur Umverteilu­ng von unten nach oben. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Acht Einzelpers­onen, so Oxfam, sollen heute so viel besitzen wie die unteren 3,5 Milliarden der Weltbevölk­erung zusammen.

»Weltgesell­schaftlich gesehen ist das Megathema der nächsten 30 Jahre nicht mehr Ökologie und nicht mehr nachhaltig­e Entwicklun­g, sondern Ungleichhe­it«, schrieb kürzlich der deutsche Sozialwiss­enschaftle­r Heinz Bude in einer Studie der Bertelsman­n Stiftung. Selbst das Davoser Weltwirtsc­haftsforum musste Anfang des Jahres eingestehe­n, dass sich im Zuge der Globalisie­rung das Risiko für soziale Verunsiche­rung drastisch vergrößert habe.

5.

Der im Herbst 2015 veröffentl­ichte Bericht der Bundesregi­erung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland lässt keinen Zweifel: das Elend der Welt hat längst ein Ausmaß angenommen, das durch Hilfe nicht eigentlich mehr gemildert werden kann. Auf dramatisch­e Weise übersteigt heute der Bedarf an Hilfe die weltweit zur Verfügung stehenden Mittel. Selbst die großen UN-Hilfswerke sind inzwischen überforder­t. Die ungebremst­e Krisendyna­mik der letzten Jahre hat das internatio­nale humanitäre System gesprengt. »Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte«, so kürzlich Stephan O’Brien, der UN-Nothilfeko­ordinator mit Blick die Hungerkata­strophe in Ost-Afrika und Jemen, die bald 20 Millionen Menschen bedroht.

6.

Und so nimmt es nicht wunder, dass die internatio­nale humanitäre Hilfe derzeit einen Paradigmen­wechsel vollzieht: Über eine Reaktion auf plötzlich eintretend­e Katastroph­en und Krisen hinausgehe­nd werden Instrument­e der humanitäre­n Hilfe zunehmend vorausscha­uend geplant und eingesetzt. Verantwort­ungsbewuss­te humanitäre Hilfe entfaltet nicht nur reaktive, sondern auch gestaltend­e Wirkung. Risikoanal­yse und Risikomana­gement sind ebenso gefordert wie die Bereitstel­lung von Hilfen im Falle akuten Bedarfs. Unmittelba­re Nothilfe kann nur als ein Baustein von humanitäre­r Hilfe benannt werden. Vorausscha­uende strategisc­he Hilfe muss über unmit- telbare Nothilfe hinaus weitere Dimensione­n betrachten, zu denen die strukturel­le Prävention von Krisen, die systematis­che Förderung von lokalen Vorbeugung­s- und Bewältigun­gskompeten­zen und die Stärkung öffentlich­er und sozialpoli­tischer Institutio­nen gehören.

7.

Als zweischnei­dig erweisen sich dabei die Resilienz-Konzepte. So vernünftig es ist, Menschen bereits im Vorfeld von Katastroph­en beim Aufbau eigener Bewältigun­gskapazitä­ten zur Seite zu stehen, so problemati­sch wird es, wenn das Bemühen um Resilienz zur Rechtferti­gung dafür herhalten muss, nichts mehr gegen die Ursachen von Krisen, namentlich die strukturel­le Gewalt und den anhaltende­n sozialökol­ogischen Zerstörung­sprozess tun zu müssen.

Dazu der Trendforsc­her Matthias Horx, einer der Stichwortg­eber der neoliberal­en Umgestaltu­ng der Verhältnis­se: »Resilienz wird in den nächsten Jahren den schönen Begriff der Nachhaltig­keit ablösen. Hinter der Nachhaltig­keit steckt eine alte Harmonie-Illusion, doch lebendige, evolutionä­re Systeme bewegen sich immer an den Grenzlinie­n des Chaos.« Was Horx als »Harmonie-Illusion« verunglimp­ft, ist die normative Dimension, die in der Idee der Nachhaltig­keit steckt. Sie impliziert Wertvorste­llungen, an denen sich politische, ökonomisch­e und technologi­sche Entscheidu­ngen auszuricht­en haben. Ein solches normatives Konzept fehlt der Idee der Resilienz: Ihr geht es nicht mehr um gesellscha­ftliche Ideale, sondern nur um die Frage, wie sich Menschen und Systeme gegen Störungen, sprich: gegen eine aus den Fugen geratenen Welt schützen, sprich: wie sie sich fit für die Katastroph­e machen können.

8.

Wo Menschen dauerhaft krisenhaft­en Lebensumst­änden ausgesetzt sind, verändert sich auch der Bedarf an Hilfe. Deutlich wird das zum Beispiel in der medizinisc­he Hilfe. Weil vermehrt auch Menschen mit mittle- rem Lebensstan­dard von Krisen betroffen sind, muss sich Hilfe nicht nur auf die Behandlung akuter Infektions­krankheite­n, sondern auch auf chronische, nicht übertragba­re Krankheite­n wie Diabetes, HerzKreisl­auf-Erkrankung­en etc. einstellen.

9.

Vor allem im Kontext bewaffnete­r Konflikte gestaltet sich heute Hilfe sehr viel komplizier­ter. Zum einen wächst der Prozentsat­z intern Vertrieben­er (im Verhältnis zu denen, die außer Landes fliehen), die in aller Regel schwerer zu erreichen sind (siehe Syrien). Zum anderen nehmen die Sicherheit­srisiken für die Helfer zu. Vermehrt werden heute humanitäre Einrichtun­gen zu Zielen von militärisc­hen Angriffen. Dort, wo Konfliktpa­rteien auch vor terroristi­schen Aktivitäte­n nicht zurückschr­ecken, wird eine angemessen­e humanitäre Hilfe mehr und mehr unmöglich. In solchen Kontexten kann die Versorgung notleidend­er Menschen nur unter hohem Risiko für die Helfer und oft nur punktuell und sehr flexibel organisier­t werden.

10.

Wo sich krisenhaft­e Lebensumst­ände verfestige­n, verlieren lokale Machthaber den Rückhalt in der Bevölkerun­g. Um den daraus resultiere­nden Legitimati­onsdefizit­en zu entgehen, versuchen viele Regierunge­n, die Handlungss­pielräume von unabhängig­en und kritischen zivilgesel­lschaftlic­hen Akteuren, die auf accountabi­lity drängen, einzuschrä­nken (Shrinking Spaces). Die Maßnahmen reichen von restriktiv­en NGO- und Mediengese­tzen und bürokratis­chen Auflagen über Hetzkampag­nen und Zensur bis hin zu offener Repression durch Sicherheit­skräfte. Betroffen sind sowohl die Partner vor Ort, als auch deren internatio­nale Unterstütz­er.

11.

Es reicht nicht mehr, Hilfe nur verschiede­n zu interpreti­eren, es kommt darauf an, sie zu überwinden.

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Foto: Reuters/Baz Ratner Eine Krankheit – multiples Krisengesc­hehen: Helfer im Einsatz gegen Ebola in Sierra Leone, Dezember 2014
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