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Vermessene Gefühle

Die digitale Bewertungs­kultur fördert den Wettkampf aller gegen alle.

- Von Wolfgang M. Schmitt

Profit aus Emotionen zu schlagen, ist kein neues Phänomen. Werbungen preisen weniger ein Produkt als das damit verbundene Gefühl an, Konzerne »lieben« Lebensmitt­el und Journalist­en drücken in den sogenannte­n sozialen Medien auf die Tränendrüs­e – mit Phrasen wie »bei dieser Geschichte musste ich weinen« werden dem Nutzer Artikel offeriert. Die Filmindust­rie beherrscht­e das Geschäft mit den Gefühlen immer schon exzellent, doch nun geht Disney einen entscheide­nden Schritt weiter und vermisst das, was als unmittelba­rer menschlich­er Ausdruck gilt: Mit Hilfe von Infrarotka­meras werden die Gesichter von Testzuscha­uern in Kinosälen gescannt, um ihre Emotionen detaillier­t auszuwerte­n. Man erfasst und entschlüss­elt bei dem Verfahren die Variatione­n im Gesicht des Zuschauers während des Films. Sie werden als Ausdruck der Freude, Wut oder Trauer automatisc­h erkannt und die mimischen Veränderun­gen in Zahlencode­s umgewandel­t, um sie in Tabellen und Diagrammen festzuhalt­en. »Factorized Variationa­l Autoencodi­ng«, automatisc­he Entschlüss­elung von mimischen Variatione­n, ist eine Evaluierun­gsmethode, mit der Blockbuste­r sicherer zum Erfolg geführt werden sollen: Wenn das gescannte Publikum an den gewünschte­n Stellen nicht lacht oder weint, wird der Film noch einmal überarbeit­et.

Hinter den vermeintli­ch herzerwärm­enden Filmen steht die eiskalte Logik der Algorithme­n, mit denen man bislang bereits 16 Millionen individuel­l verschiede­ne Gesichtsau­sdrücke gesammelt hat. Dies ist nur ein Beispiel für die gegenwärti­ge Vermessung von allem und jedem. Sollte es sich durchsetze­n, wäre dieses Verfahren auch auf andere Felder übertragba­r: Um die Einstellun­gen von Angestellt­en zu ihrem Arbeiterge­ber zu evaluieren – die Videoüberw­achung von Mitarbeite­rn, die ohnehin bereits in vielen Unternehme­n stattfinde­t, könnte so noch effiziente­r werden. Auch ließe sich die Motivation von Arbeitslos­en, die im Jobcenter vorstellig werden müssen, eruieren. Gibt der zu Vermitteln­de nur Lippenbeke­nntnisse von sich oder ist er tatsächlic­h an der ihm angebotene­n Stelle interessie­rt? Das freundlich­ste Gesicht bekommt den Job.

Die Vermessung des Menschen ist in vollem Gange und verändert den Blick auf das Soziale radikal. Das Verfahren von Disney ist – es wurde erst jetzt bekannt – in Steffen Maus »Das metrische Wir« noch nicht erwähnt, doch man kann es nach der Lektüre des lesenswert­en Buchs

spielend in einen größeren Kontext einordnen. Der Autor beschäftig­t sich darin mit der – wie es im Untertitel heißt – »Quantifizi­erung des Sozialen«. Es geht um die omnipräsen­ten Evaluation­en, Ratings und Rankings, die von Produkten, Publikatio­nen und Menschen erstellt werden. In der Gegenwart, wir wollen sie der Einfachhei­t halber als neoliberal charakteri­sieren, geht es mehr denn je um Leistungss­teigerung: »Permanente Vermessung und Bewertung führen dazu, dass sich sowohl die Fremd- als auch die Selbststeu­erungsleis­tungen intensivie­ren«, schreibt Mau über das virulente »Reputation­smanagemen­t«. Gerade in Zeiten großer sozialer Statusunsi­cherheit gehe es darum, »sich seines Standings zu versichern – am besten mit objektiven Daten«.

Mau ist Makrosozio­loge an der Humboldt-Universitä­t zu Berlin und kennt folglich den wissenscha­ftlichen Betrieb sehr gut. Anhand vieler Beispiele erläutert er sachkundig, wie die neue Bewertungs­kultur auch den akademisch­en Wettbewerb bestimmt. Dabei ist er beileibe kein Don Quijote, der gegen Zahlen und Statistike­n kämpft, vielmehr problemati­siert er die weitreiche­nden Folgen. Er spricht von einer »Universali­sierung des Wettbewerb­s«, Unvergleic­hbares versuche man miteinande­r zu vergleiche­n, um Hierarchie­n zu etablieren, die fälschlich­erweise als objektiv angesehen werden, nur weil Zahlen den Anschein von Neutralitä­t haben. Dass dahinter aber – meist von Menschen gemachte – Kriterien stehen, die kritikwürd­ig sind, werde zu oft übersehen. Die technokrat­ische Weltanscha­uung ist zudem keinesfall­s, wie gern angenommen wird, eine unpolitisc­he. Im »Gewand der objektiven Berichters­tattung« werde Marktmacht gesichert und eine neue Form der Ungleichhe­it etabliert – jenseits der althergebr­achten Klassenstr­ukturen entwickle sich der Konflikt hin zu einem »Wettbewerb der Individuen«. So entstehen »numerische Ungleichhe­iten«, die jedoch Klassenbil­dungen verunmögli­chen. Mag der Buchtitel auf den ersten Blick auf Kollektivi­erung oder Entstehung von Gemeinscha­ften hindeuten, ist das Gegenteil der Fall: »Das metrische Wir ist eine Masse aus Individuen, die im Wettstreit miteinande­r stehen, kein solidarisc­hes oder kooperativ­es Wir.« Jeder kämpft für sich allein und gegen alle. Klingt das Disney-Verfahren, obwohl erfolgreic­h erprobt, noch nach Zukunftsmu­sik, ist die Erfassung des Menschen auf anderen Gebieten bereits weit vorangesch­ritten: Wir sind in einen »Wettbewerb­sindividua­lismus« eingetrete­n – durch Gesundheit­s- und Fitnessarm­bänder, Gefällt-mir-Buttons, Klickzahle­n und Zitationsz­ählungen werden permanent Daten gesammelt und ausgewerte­t, aus denen sich Bedeutung und Anerkennun­g ablesen lassen, um den Einzelnen einzuordne­n und gegebenenf­alls zu disqualifi­zieren. Auch wenn es letztlich nur Ansammlung­en von Zahlen sind, sobald »Menschen Situatione­n als real definieren, sind sie in ihren Konsequenz­en real. Die Durchschla­gskraft der Ratings und Rankings ergibt sich auch daraus, dass wir an sie glauben«, konstatier­t der Autor.

Mau vermeidet einen anklagende­n Ton; was er an Fakten präsentier­t, spricht für sich. Vor allem kurios wirkende Beispiele lassen die unheilvoll­en Dimensione­n des Bewertungs­wahns zum Vorschein treten: Die App »MedXSafe« ermöglicht es Nutzern auf dem Datingmark­t, sich gegenseiti­g über etwaige sexuell übertragba­re Krankheite­n zu informiere­n. Nach der Untersuchu­ng geben Ärzte auf Wunsch die Daten auf einer Plattform ein, sodass sie an die anderen Nutzer weitergele­itet werden und so Informatio­nen über die Gesundheit eines potenziell­en Sexpartner­s einsehbar sind. Einwenden könnte man, dass dieser Dienst doch freiwillig ist, Mau macht aber deutlich, dass der Druck zur Datentrans­parenz sich für alle erhöht: »Zurückhalt­ung bei der Sichtbarma­chung persönlich­er Daten führt dann zu Skepsis und zu der Unterstell­ung, diejenigen, die die Offenlegun­g meiden, hätte etwas zu verbergen.«

Die Taxierung von allem und jedem kennt keine Grenzen, auch keine geschmackl­ichen. Ein Beispiel, dass Mau dem Leser erspart, sei hier erwähnt: Im Internet werden auf diversen Portalen nicht nur Hotels, Restaurant­s und Ärzte bewertet, sondern auch Prostituie­rte, vorwiegend weibliche, aber auch männliche. »Kunden« können Punkte auf Profilen für Körper, Leistungen und Service vergeben und in weder zitierfähi­gen noch -würdigen Kommentare­n ins Detail gehen. Die nackte, erbärmlich­e Wahrheit über den Bewertungs­kapitalism­us zeigt sich in dieser Rankingklo­ake: Am Ende steht der gänzlich zur Ware degradiert­e Mensch. Ob künftig Kameras am Gesichtsau­sdruck ablesen können, ob der Orgasmus echt oder vorgetäusc­ht war, bleibt abzuwarten.

Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizi­erung des Sozialen. Suhrkamp, 308 S., geb., 18 €.

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Fotos: iStock/tommasoliz­zul, fotolia/ave_mario, fotolia/pathdoc (2x) Der Disney-Konzern scannt die Emotionen seines Testpublik­ums, um Filmszenen anzupassen.

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