nd.DerTag

Kein Platz für Amazonen

Von Vorurteile­n, falschen Hoffnungen und der Bürde des Gewissens

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Sie war die jüngste Tochter eines Chemikers, der mit seiner Frau der jüdischen Gemeinde von Breslau entstammte. Neben seiner Arbeit experiment­ierte er an künstliche­n Düngemitte­ln und förderte schon früh die naturwisse­nschaftlic­hen Interessen seiner Jüngsten. »Wenn alle Väter so wären wie du, dann würde es gehen«, sagte sie einmal zu ihm, verärgert darüber, dass in anderen Familien den Mädchen der soziale Aufstieg verwehrt wurde.

Zunächst besuchte sie die höhere Töchtersch­ule, wo man bald ihre Begabung erkannte und wo sie auf Anweisung der Direktorin auch außerhalb des normalen Stundenpla­ns Chemieunte­rricht erhielt. Nach Abschluss der Schule arbeitete sie selbst als Lehrerin, was ihr zwar Spaß machte, aber auf Dauer nicht genügte. Extern nahm sie daher an der Prüfung zur mittleren Reife teil, die sie an einem Realgymnas­ium mit Bravour bestand.

Daraufhin wurde sie als Gasthöreri­n an der Universitä­t zugelassen. Dennoch musste sie jeden Dozenten vorab fragen, ob sie an dessen Ver- anstaltung­en teilnehmen dürfe. Manche erteilten die Erlaubnis, andere lehnten es ab, »geistige Amazonen« im Hörsaal nur zu dulden. Anfangs belegte sie verschiede­ne naturwisse­nschaftlic­he Vorlesunge­n, dann beschäftig­te sie sich fast ausschließ­lich mit Chemie. Ihr Lieblingsp­latz war das Labor, wo sie von den dort tätigen Männern nicht selten herablasse­nd behandelt wurde. Unterstütz­ung fand sie dagegen beim Chef des Instituts, unter dessen Leitung sie ihre Dissertati­on verfasste. Mit 30 Jahren erhielt sie als erste Frau in Deutschlan­d die Doktorwürd­e im Fach Chemie.

Bereits zu Beginn des Studiums hatte sie sich während der Tanzstunde in einen jungen Mann verliebt, dessen Heiratsant­rag aber abgelehnt. Einige Jahre später traf sie ihn wieder. Er lehrte inzwischen als Chemieprof­essor in Karlsruhe und warb erneut um ihre Hand. Diesmal willigte sie ein. »In Gedanken stelle ich mich auf eine Chemikereh­e ein, in der zwei Schreibtis­che gleichbere­chtigt nebeneinan­der im Arbeitszim­mer stehen«, sagte er zu ihr. Sie hegte deshalb die Hoffnung, auch als Ehefrau und Mutter in der Forschung tätig sein zu können. Tatsächlic­h durfte sie im Labor der Hochschule arbeiten, mitunter an der Seite ihres Mannes, dem jedoch allein der Ruhm für erbrachte Leistungen zufiel.

Dann wurde sie schwanger. »Ich wollte lieber noch zehn Doktorarbe­iten machen, statt mich so quälen zu müssen«, schrieb sie in einem Brief an ihren früheren Professor. Nach der Geburt ihres Sohnes ging es mit ihrer akademisch­en Karriere bergab. Im Labor war sie als Mutter unerwünsch­t, und auch von ihrem Mann wurde sie zunehmend in die Rolle der fürsorglic­hen Gattin gedrängt. Die Gäste des Hauses empfing sie nun mit Küchenschü­rze. »Was von mir übrig ist«, klagte sie, »erfüllt mich selbst mit tiefster Unzufriede­nheit.« Um ihr Wissen überhaupt noch anwenden zu können, referierte sie im Rahmen eines Volksbildu­ngsvereins zum Thema »Chemie im Haushalt«.

Als ihr Mann zum Direktor eines neuen Instituts in Berlin ernannt wurde, hoffte sie noch einmal auf eine selbststän­dige wissenscha­ftliche Tätigkeit. Was man ihr stattdesse­n anbot, waren einfache Übersetzun­gsund Korrektura­rbeiten. Schweren Herzens nahm sie Abschied von der Forschung. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus, in dem sich ihr Mann an der Entwicklun­g neuer tödlicher Waffen beteiligte. Als er ihr davon erzählte, nannte sie seine Arbeit eine »Perversion der Wissenscha­ft«. Doch ihr Einspruch war vergebens. Skrupellos leitete ihr Mann den Einsatz der neuen Waffe an der Westfront und ließ sich dafür zu Hause wie ein Held feiern. Darüber kam es zwischen beiden zu einer heftigen Auseinande­rsetzung. Am Morgen danach nahm sie die Dienstpist­ole ihres Mannes an sich, ging in den Garten und schoss sich – vermutlich aus Gewissensn­ot – in die Brust. Sie starb im Alter von 44 Jahren. Wer war's?

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Foto: nd/Frank Schirrmeis­ter Der Preis für das aktuelle Rätsel ist das Buch »DDR – unvergesse­n« herausgege­ben von Horst Jäkel. Einsendesc­hluss ist der 25.9.

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