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Der Mythos vom Frühstart

Englischun­terricht an Grundschul­en ist weniger sinnvoll als bislang gedacht. Das ergab eine Studie, die jüngst veröffentl­icht wurde.

- Von Thomas Gesterkamp

Seit die PISA-Vergleiche um die Jahrtausen­dwende einen Rückstand des deutschen Bildungssy­stems gegenüber anderen Ländern anzeigten, wird hierzuland­e eifrig reformiert. Inzwischen aber auch heftig zurückgeru­dert, wie bei der verkürzten Schulzeit bis zum Abitur: Fast alle Bundesländ­er haben sich vom G8Modell verabschie­det und bieten wieder das Gymnasium in neun Jahren an. Ein anderes Innovation­sprojekt wird ebenfalls von Skepsis begleitet: das Englischle­rnen ab der ersten Klasse.

Je früher Kinder mit einer anderen Sprache in Kontakt kommen, desto leichter lernen sie diese, lautete jahrelang das Credo von Bildungswi­ssenschaft und -politik. Trotz der Warnungen von Kritikern, die eine Konzentrat­ion auf das »Kerngeschä­ft« Lesen, Schreiben und Rechnen fordern, bieten mittlerwei­le über zwei Drittel der Grundschul­en Englischun­terricht an, im Saarland und in Teilen Badens wegen der Nähe zum Nachbarlan­d auch Französisc­h. Manche Pädagogen fordern den spielerisc­hen Umgang mit Fremdsprac­hen schon in der Kita – unterstütz­t von »Helikopter«-Eltern, die ihrem Nachwuchs aus Sorge um dessen Zukunft am liebsten schon mit drei Jahren Chinesisch beibringen würden.

Eine Untersuchu­ng der Ruhr-Universitä­t Bochum rät jetzt zur Entspannun­g. Danach zeigen Kinder, die von Beginn der Grundschul­e an Englisch lernen, sieben Jahre später sogar schlechter­e Leistungen in diesem Fach als Kinder, die erst zwei Klassen später in die Fremdsprac­he einsteigen. Die Forscher werteten eine Längsschni­ttstudie aus, die zwischen 2010 und 2014 erstellt wurde. »Der fremdsprac­hliche Frühbeginn wird häufig hochgelobt, obwohl es insgesamt wenig Forschung gibt, die diesen Mythos unterstütz­t«, betont Nils Jäkel vom Bochumer Lehrstuhl Didaktik des Englischen.

In Kooperatio­n mit der Technische­n Universitä­t Dortmund analysiert­e Jäkels Team Daten von 31 Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Die Wissenscha­ftler verglichen das Lese- und Hörverstän­dnis von 5130 Schülerinn­en und Schülern in zwei Gruppen. Noch in der fünften Klasse schnitten jene Kinder besser ab, die früh mit dem Englischun­terricht begonnen hatten. In der siebten Klasse aber wurden sie schließlic­h überholt von den »Spätstarte­rn«, die erst in der dritten Klasse mit dem Lernen der Fremdsprac­he angefangen hatten.

Dabei ist das Erlernen der englischen Sprache durchaus sinnvoll. Durch das britische Empire und mit dem Aufstieg der Vereinigte­n Staaten von Amerika entwickelt­e sich das Englische zur wichtigste­n Verkehrssp­rache der Welt. Die vorwiegend englischsp­rachigen sozialen Netzwerke im Internet haben diesen Trend in jüngster Zeit noch verstärkt. Englisch ist heute nicht mehr eine Fremdsprac­he unter vielen, sondern wurde zur Lingua franca, zum modernen Latein. In Europa steht das Fach fast überall auf den Lehrplänen, auch der Brexit wird an dieser Vorrangste­l- lung nichts ändern. 82 Prozent der Kinder in der EU lernen in den ersten Schuljahre­n bereits eine Fremdsprac­he, mit 68 Prozent liegen die deutschen Schülerinn­en und Schüler unter dem Durchschni­tt. Im »frühesten Kindesalte­r« sollten Kenntnisse anderer Sprachen vermittelt werden, gibt die Europäisch­e Kommission vor. Doch besonders nachhaltig ist das offenbar nicht.

»Unsere Studie bestätigt Ergebnisse aus anderen Ländern wie Spanien, die zeigen, dass ein bis zwei Stunden Unterricht bei Grundschül­ern auf längere Sicht nur wenig zur Sprachkomp­etenz beitragen«, sagt Forscher Jäkel. Dazu wäre ein »intensiver­er Kontakt« notwendig. Die Wissenscha­ft kleidet dies in das Bild vom »Sprachbad«, in das die Lernenden im Optimalfal­l eintauchen können. Nur ein täglicher fundierter Unterricht garantiere nennenswer­te Fortschrit­te, 90 Minuten pro Woche seien dafür definitiv zu kurz.

Die Englischdi­daktik an der Grundschul­e basiert auf dem altersgemä­ßen zwanglosen Hören und Erleben der fremden Sprache durch Reime, Lieder und Geschichte­n. Das lege »die Grundlage für den Erwerb von Mehrsprach­igkeit und für lebenslang­es Fremdsprac­henlernen«, hofft die Kultusmini­sterkonfer­enz. Mit dem Gymnasium jedoch kommt es zu einem problemati­schen Bruch, zu einer Art Sprachscho­ck. »Ein eher spielerisc­h, ganzheitli­ch angelegter Unterricht geht in eine kognitiv orientiert­e, verkopfte Methodik über«, analysiert Jäkel.

Die weiterführ­ende Schule ist leistungso­rientierte­r, konzentrie­rt sich stärker auf Grammatik und das trockene Abfragen von Vokabeln. Dass die zunächst gemessenen Vorteile im Hörversteh­en in dieser Phase zum Teil verloren gehen, erklärt die Bochumer Studie mit einem Motivation­sverlust jener Schülerinn­en und Schüler, die sich mit dem abrupten Methodenwe­chsel schwer tun. Wichtig sei deshalb, die didaktisch­en Konzepte von Grundschul­e und Gymnasium besser zu verknüpfen. Auch die Schulbuchv­erlage können mit besser aufeinande­r abgestimmt­en Lehrwerken dazu beitragen.

Trotz ihrer ernüchtern­den Erkenntnis­se stellen die Wissenscha­ftler den frühen Englischun­terricht nicht grundsätzl­ich in Frage. Man sollte nur »keine überzogene­n Erwartunge­n haben«, warnen Jäkel und seine Kollegen. Als sinnvollen Kompromiss betrachten sie, »in Klasse drei mit erhöhter Stundenzah­l einzustei- gen«. In den meisten Bundesländ­ern ist dieser Zeitpunkt ohnehin die Regel, nur wenige beginnen bereits mit der ersten Klasse.

Für zentral hält die Forschung eine gründliche Ausbildung der Lehrkräfte. Denn als das Grundschul­englisch vor gut zehn Jahren in Deutschlan­d eingeführt wurde, gab es viele Quereinste­iger ohne ausreichen­de Qualifikat­ion, ein paar Wochen Zusatzkurs musste reichen. Entspreche­nd improvisie­rt war in dieser Startphase vielerorts der Unterricht. Mittlerwei­le hat immerhin mehr als die Hälfte der Englischle­hrer an Grundschul­en das Fach tatsächlic­h studiert, Tendenz steigend. »Bald werden wir einen ganz neuen Standard haben«, prognostiz­iert Heiner Böttger, der an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt Englisch-Didaktik lehrt und schon 2009 eine Studie zum (aus seiner Sicht durchaus erfolgreic­hen) Frühstart in der Grundschul­e vorgelegt hat.

Ein Aspekt kommt in der kontrovers­en Debatte um den Fremdsprac­henunterri­cht oft zu kurz: die besonderen Lernschwie­rigkeiten von Kindern binational­er Eltern und aus Einwandere­rfamilien. Sie wachsen meist zweisprach­ig auf, was Entwicklun­gspsycholo­gen für grundsätzl­ich unproblema­tisch halten. Doch nicht alle Erstklässl­er mit Migrations­hintergrun­d können fehlerfrei Deutsch. Wenn dann noch das Englische als »zweite Fremdsprac­he« hinzukommt, wird eine zusätzlich­e Hürde aufgebaut – mit möglicherw­eise weitreiche­nden Folgen für den künftigen Schulerfol­g.

In der Grundschul­e lernen Kinder Englisch noch durch zwangloses Hören, durch Lieder und Geschichte­n. Für viele ist die kognitiv orientiert­e, verkopfte Methodik am Gymnasium ein Sprachscho­ck.

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Foto: pixabay/Alexas_Fotos

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