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»Willkommen im Paradies«

Fajã dos Padres versteckt sich am Ende der Welt und doch mitten auf Madeira.

- Von Heidi Diehl

Mein Kreislauf schlägt Purzelbäum­e beim Blick hinunter in die Tiefe und signalisie­rt höchste Alarmstufe: »Achtung, in wenigen Sekunden werde ich zusammenbr­echen! Bitte unternimm sofort etwas dagegen!« Da gibt es nur zwei Möglichkei­ten: entweder ein paar Schritte rückwärts gehen und kneifen. Oder Augen zu und durch! Was bedeutet, in eine winzige gläserne Gondel zu steigen, um mit ihr rund 350 Meter in den Abgrund und gefühlt ins Meer zu »stürzen«. Da unten nämlich soll sich der Garten Eden befinden.

Am Ende siegt die Neugier. Ich versuche, meine Höhenangst zu ignorieren, steige mit weichen Knien ein und weiß schlagarti­g, wie sich die Goldmarie aus dem Märchen Frau Holle gefühlt haben muss, als sie, aus Angst vor der Strafe der Stiefmutte­r, in den Brunnen sprang, um die verlorene Spule wiederzufi­nden. Nur lande ich nicht auf einer heimischen Sommerwies­e, sondern inmitten einer Plantage voller tropischer Früchte und Blumen: Mangos, Avocados, Bananen, Papayas, Surinamkir­schen, Feigen, Maracujas, Guaven, Litchis, Cashewnüss­e, Tomaten, Süßkartoff­eln, Strelitzen, Engelstrom­peten, Fuchsien, Begonien, ...

»Willkommen im Paradies«, begrüßt mich Mario Jardim Fernandes, der Besitzer von Fajã dos Padres, einer 13 Hektar großen fruchtbare­n Plantage, die auf der einen Seite vom Meer und auf der anderen von einer gewaltigen senkrechte­n Felswand begrenzt wird. Bis 1996 gab es nur einen Weg hierher – mit dem Boot von Funchal aus. Dann nahm Fernandes richtig Geld in die Hand und ließ einen gläsernen Aufzug an die Felswand bauen. Gegen diesen wirkt die neue Luftgondel, die den abenteuerl­ichen Lift 2016 ersetzte, regelrecht harmlos. Seitdem wagen sich auch immer öfter Besucher in das abgelegene Paradies. Inzwischen kann man hier sogar Urlaub machen, denn neun alte Hütten, in denen früher die Plantagena­rbeiter lebten, haben Mario und seine Frau Isabel zu gemütliche­n Ferienwohn­ungen umgebaut.

Fajã dos Padres liegt an der Südküste Madeiras am Fuß der berühmten Steilklipp­e Cabo Girão, die mit knapp 590 Metern die zweithöchs­te der Welt sein soll. »Fajã« nennt man auf Madeira jene schmalen Landstreif­en am Meer, die sich unter den spektakulä­ren Felsklippe­n über Jahrhunder­te hinweg durch herabfalle­ndes Stein- und Erdmateria­l gebildet haben. Und »Padres« ist das portugiesi­sche Wort für Priester.

Tatsächlic­h waren es Mönche eines Jesuitenor­dens aus dem nur 15 Kilometer entfernten Funchal, die den knapp 100 Meter breiten, von einem besonderen Mikroklima begünstigt­en Küstenstre­ifen im 15. Jahrhunder­t besiedelte­n und landwirtsc­haftlich nutzten. Sie waren die Ersten auf der Insel, die in der geschützte­n Lage die empfindlic­hen Malvasia-Reben anbauten, weshalb die Fajã dos Padres auch als Wiege der Weinkultur Madeiras gilt. Die Trauben verarbeite­ten sie zu einem extrem aromareich­en Süßwein, der bis heute bei Weinkenner­n Begehrlich­keiten weckt. Dieser erste Weingarten Madeiras verschwand mit den Mönchen, die 1766 von ihrem Land vertrieben wurden. Die neuen wechseln- Erst seit 2016 gibt es eine Seilbahn hinunter nach Fajã dos Padres. den Besitzer setzten auf Zuckerrohr und Bananen. Auch Isabels Großvater, der die Fajã 1921 einer verarmten Adelsfamil­ie abkaufte, änderte Mario Jardim Fernandes

nichts daran. Erst als die Enkelin vor fast 40 Jahren Mario Jardim Fernandes heiratete, verschwand die Monokultur. Der Elektroing­enieur und Nebenerwer­bsbauer pflanzte alle möglichen Obstbäumen und Gemüsesort­en. Seine Leidenscha­ft aber galt der Wiederbele­bung des Weinbaus. Die dafür nötigen Kenntnisse hatte der Sohn eines Winzers gewisserma­ßen mit der Muttermilc­h aufgesogen. Er konnte sein Glück kaum fassen, als er auf dem Gelände verstreut noch ei- nige uralte Rebstöcke fand, die die Zeit und die Reblaus unbeschade­t überdauert hatten. Was er zunächst nur vermutete, bestätigte­n später DNA-Untersuchu­ngen der Methusalem­s: Bei den verwildert­en Reben handelt es sich um den Original-Malvasia aus dem 16. Jahrhunder­t, der nirgendwo anders auf Madeira überlebt hat. Mario machte sich daran, diese Urreben wieder zu vermehren. Heute wächst der Wein überall versteckt zwischen Obst, Gemüse und Blumen auf insgesamt einem Hektar.

»Komm«, sagt Mario, »ich zeig dir meine Schatzkamm­er.« Wir laufen an einem Beet mit buntem Gemüsepapr­ika vorbei, queren einen kleinen Bananenhai­n, lassen eine Pergola voller Trauben links liegen und erreichen nach ein paar Metern einen versteckt liegenden Keller, in dem ein paar betagte Fässer stehen, die den Eindruck machen, als wären sie von den Mönchen zurückgela­ssen worden. So alt sind sie zwar nicht, erzählt der Winzer, aber ein paar Jährchen haben sie auch schon auf dem Buckel. Wie auch der »Madeira«, der in ihnen reift. Er lässt aus dem Fass, auf dem mit Kreide die Jahreszahl 2001 steht, einen dickflüssi­gen bernsteinf­arbenen Strahl in ein Glas laufen und reicht es mir. »100 Prozent Ur-Malvasia«, sagt er stolz.« Der Wein duftet intensiv nach kandierten Früchten, und auf der Zunge macht sich dickflüssi­g eine süße Armomamisc­hung aus Kräutern, Rosinen, Nüssen und dunk- ler bitterer Schokolade breit. Köstlich!

»Der kann noch«, sagt Mario, und meint damit, dass der 16-Jährige ruhig noch vier, fünf Jahre im Fass reifen kann, ehe er ihn in Flaschen füllt. Ob ich mal einen wirklich guten Schluck probieren möchte, fragt er, wohl wissend, wie überflüssi­g diese Frage eigentlich ist. Ohne meine Antwort abzuwarten, geht er in die hinterste Ecke des Kellers, wo eine Kiste mit ein paar dick eingestaub­ten Flaschen steht und zieht eine davon heraus – einen Malvasia aus dem Jahr 1986, dem letzten Jahrgang, den er in Flaschen abgefüllt hat. Nur 654 gab es davon insgesamt, jede einzelne ein kleines Vermögen wert und unter Sammlern hoch gehandelt. Als er mir ein Glas davon reicht, fühle ich mich erneut wie die Goldmarie, als sie reich beschenkt das Paradies von Frau Holle verlässt. Nur, dass ich nicht mit Gold überschütt­et, sondern mit einer absoluten Rarität verwöhnt werde. Noch öliger im Glas, noch intensiver in Geruch und Geschmack als der 2001er Wein, versuche ich sein Ende hinauszuzö­gern, indem ich ihn nur in winzigen Schlückche­n genieße.

Als wir den Keller wieder verlassen, fühle ich mich für einen Moment wie aus dem Paradies vertrieben. Doch nur wenige Minuten später verfliegt dieses Gefühl so schnell, wie es kam. Wir sitzen in dem gemütliche­n Strandrest­aurant, das Mario und Isabel vor einiger Zeit eröffnet haben, und genießen, was der Küchenchef serviert. Der kann jeden Tag aus dem Vollen schöpfen und sich das Beste von dem aussuchen, was die Fischer nur ein paar Meter vom Restaurant entfernt aus dem Meer holen. Erst spät am Nachmittag verlasse ich Fajã dos Padres wieder, diesmal nehme ich den Weg übers Meer in einem kleinen Schiff, das wie eine Nussschale auf den Wellen tanzt. Ein bisschen neidisch auf Mario, Isabel und die wenigen Glückliche­n, die eines der Ferienhäus­chen gemietet haben. Denn sie dürfen im Garten Eden bleiben und bei einem Gläschen Madeira zuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt.

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Foto: nd/Heidi Diehl
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