»Die ganze Aktion lief völlig schief«
Lutz Taufer über Schleyer, Stockholm und den bewaffneten Kampf gegen das »Schweinesystem«
Als Hanns Martin Schleyer entführt wurde, saßen Sie im Gefängnis. Wann haben Sie erfahren, dass das Kommando, das den ehemaligen SS-Offizier und Arbeitgeberpräsidenten entführt hatte, sich nach Ihrem ehemaligen Mitstreiter Siegfried Hausner nannte?
Ich weiß nicht mehr exakt, wann ich es erfuhr. Wenige Stunden nach der Schleyer-Entfühung wurde Kontaktsperre über uns verhängt. Wir hatten null Kontakt zur Außenwelt, wir waren ohne Anwalt, ohne Radio, ohne Zeitung, ohne Post, nichts. Die Kontaktsperre ging über sechs Wochen. Als sie beendet war, bekam ich eine Stunde Einzelhofgang und da haben Gefangene, keine politischen, an ihrem Zellenfenster ein selbstgemaltes Plakat hochgezeigt, auf dem geschrieben stand: »Baader, Ensslin, Raspe tot.« Das war am 19. Oktober 1977. Und natürlich ein Schock.
Mit der Schleyer- und später der Landshut-Entführung sollten RAFGefangene freigepresst werden. Sie standen nicht auf der Liste. Hat Sie das gekränkt?
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich war froh darüber. Denn die Landshut-Entführung konnte ich nicht gut heißen. Da wollten Menschen in den Urlaub fliegen, nicht auf die Bahamas, sondern nach Mallorca, ein bisschen Süden genießen, für wenig Geld, weil sie nicht betucht waren, eher den unteren Schichten der Gesellschaft angehörten. Mit KarlHeinz Dellwo und Knut Folkerts war ich mir einig: Das geht nicht! Das ist genauso ein Unding wie 1972 der Anschlag auf die Springer-Zentrale in Hamburg, bei dem auch Arbeiter verletzt wurden. Und die Erschießung des jungen US-GIs Edward Pimental, nur um an seinen Ausweis zu kommen. Es gab damals heftige Diskussionen und Widerspruch in der RAF und in der Sympathisantenszene.
Nach Holger Meins, der 1974 in Haft an den Folgen seines Hungerstreiks starb, nannte sich Ihr Kommando, das die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm im April 1975 stürmte und zu dem außer Ihnen und KarlHeinz Dellwo nicht nur Siegfried Hausner, sondern auch Ulrich Wessel, Hanna Krabbe und Bernhard Rössner gehörten. Kannten Sie sich schon länger oder fanden Sie sich spontan zusammen?
Wir kannten uns teilweise schon seit Jahren, schon vom Sozialistischen Patienten Kollektiv in Heidelberg, welches das kapitalistische System anklagte, weil dessen Lebens- und Arbeitsbedingungen krank machen. Aktuelle Beispiele hierfür sind übrigens die Dieselabgasbetrügereien oder das weit verbreitete Burn-out.
Wieso wählten Sie als Anschlagsort ausgerechnet Schweden? Regiert von einem sozialdemokratischen Entspannungspolitiker, Olof Palme? Palme hat auch vor der US-Botschaft in Stockholm gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Wir glaubten deshalb, er wird nicht gleich die Polizei zum Sturm auf das Botschaftsgebäude losschicken, weil er eben kein Kalter Krieger, kein Militarist war, wie die anderen. Doch kaum waren wir in der Botschaft, stürmte die Polizei rein und die ganze Aktion lief völlig schief, geriet aus dem Ruder.
Sie endete blutig.
Der Militärattaché Andreas von Mirbach und der Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart wurden von uns erschossen. Das war eine Aktion, die völlig quer lag zu jedem emanzipatorischen Anspruch. Selbst wenn man Gewalt anwendet, darf diese nicht in Widerspruch stehen zu der Sache, die man anstrebt. Wir wollten doch eine gerechtere, bessere, humanere Gesellschaft. Dieser Anspruch steht in Frage, wenn wehrlose Geiseln ermordet werden.
Sie hegen Zweifel an der offiziellen Version des Todes von Hausner? Ja. Etwa um Mitternacht explodierte der von uns platzierte Sprengstoff. Was die Explosion ausgelöst hatte, ist unklar. Die schwedische Polizei hatte einen Angriff vorbereitet, bei dem Gas in die Belüftungsanlage eingeleitet werden sollte. Nach der Explosion schleppten Siegfried und ich den Verletzten Bernd aus dem Gebäude, danach gingen wir zurück, um uns um den bewusstlosen Ulrich zu kümmern, der bereits im Sterben lag. Kurz nach Mitternacht wurden Hanna, Karl-Heinz, Bernd und ich vor der Botschaft festgenommen. Wann, wo und in welchem Zustand Siegfried verhaftet wurde, ist unklar. Es sollen auch nach unserer Festnahme Schüsse in der Botschaft gefallen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Siegfried an den geringfügigen Verletzungen, die ich an ihm bemerkt hatte, kurze Zeit später auf der Sanitätsstation im Stammheimer Knast gestorben sein soll.
Bevorzugte Opfer der RAF waren alte Nazis und prominente Protagonisten des Systems. Diplomaten sind aber eher Rädchen im Getriebe. Damals waren für uns auch Diplomaten Repräsentanten des kapitalistischen Systems. Tatsächlich war Stockholm schon Ausdruck eines späteren Militarismus und hat, weil wir selbst uns dazu damals nicht äußerten, für das Umfeld draußen falsche Maßstäbe gesetzt. Wir hätten uns früher klarer positionieren müssen. Das hätte die Schleyer-Entführung womöglich nicht ungeschehen gemacht, aber hätte vielleicht die folgenden Jahre beeinflusst.
Sie sind in einem apolitischen Elternhaus aufgewachsen. Wie kam es zu Ihrer Radikalisierung?
Ich stand bis zum 2. Juni 1967 der Studentenbewegung kritisch gegenüber. Erst der Mord an Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke haben bei mir ein Umdenken bewirkt. Auch der Vietnamkrieg. Zum einen, weil die Bundesregierung Schützenhilfe beim Genozid in Vietnam gab, zum anderen, weil der Antikriegsbewegung ein fürchterlicher Hass entgegenschlug – aus der bürgerlichen Presse und auch auf der Straße, in der biederen Nachbarschaft. Hinzu kamen die Notstandsgesetze, die von ehemaligen Nazis ausgearbeitet worden sind. Sie wollten ursprünglich sogar noch den Schutzhaftparagrafen aus der NS-Zeit übernehmen. Wir hatten doch gelernt: »Wehret den Anfängen!« Aber woran erkennt man diese Anfänge?
Glaubten Sie wirklich, die Massen gegen das »Schweinesystem« in der Bundesrepublik mobilisieren zu können?
Wir hatten reichlich nebulöse Vorstellungen.
Fühlte sich die Rote Armee Fraktion als eine Art Avantgarde?
Das bolschewistische Schema, wonach die Partei die Massen befiehlt, war nicht das unsere, auch wenn wir uns Rote Armee Fraktion nannten.
1956 hat Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU Stalins Verbrechen offen gelegt. Die brasilianischen Kommunisten dachten, das sei bürgerliche Propaganda, das stimmt nicht. Sie schickten einen Emissär nach Moskau, und als der zurückkam, bestätigte er: »Ja, das stimmt alles.« Carlos Marighella ist in Tränen ausgebrochen – wegen der Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen worden sind. Und Jorge Amado, der große brasilianische Schriftsteller, trat aus der KP aus. Ich bringe hier das Beispiel Brasilien, weil von Lateinamerika wichtige Anstöße zu einem Umdenken im revolutionären Kampf kamen.
Marighella, der das »Minihandbuch des Stadtguerilleros« verfasst hatte, war Ihr Ideol.
Ja, aber nicht, weil er eine Gebrauchsanweisung für die Stadtguerilla verfasst hat, sondern wegen seines Widerstands gegen die brasilianische Militärdiktatur, die, nebenbei gesagt, von der Regierung Willy Brandt und »VW do Brasil« massiv unterstützt wurde. Auch mit Waffen von Heckler & Koch. Marighella ist heute Ehrenbürger der Stadt São Paulo, brasilianische Schulen tragen seinen Namen, eine davon auf der Ilha da Itaoca, einer sehr armen Favela, in der ich später arbeitete.
Der XX. Parteitag in Moskau hat zu einem Umdenken in der Revolutionsstrategie und -taktik beigetragen. In Lateinamerika putschten sich überall die Militärs an die Macht, es gab militärisches Eingreifen der USA, 1954 einen CIA-Putsch in Guatemala. Aber die KP’s erwiesen sich nirgendwo als der Motor für entschlossenen Widerstand. Es kam die Zeit der friedlichen Koexistenz zwischen Ost und West. Und der Fokus-Theorie: Eine kleine Gruppe, die entschiedenen Widerstand leistet, kann eine mobilisierende Wirkung entfalten. Das hat in Kuba funktioniert, aber Che scheiterte damit bereits in Bolivien.
Die Geschichte der RAF wird hierzulande oft so dargestellt, als sei sie ein isoliertes Phänomen gewesen. Das stimmt nicht. Wir verstanden uns als einen Frontabschnitt im weltweiten Kampf gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus. Darauf spielt das Wort »Fraktion« an. Wir waren der Überzeugung, dass der Kapitalismus sich seinem Ende nähert, wovon auch viele andere überzeugt waren. Das hat natürlich zu einer maßlosen Selbstüberschätzung unserseits beigetragen. Deshalb haben wir Dinge getan, die wir besser nicht getan hätten.
Eigentlich ging es bald nur noch um die Freipressung von Gefangenen. Die RAF kreiste um sich selbst.
Ja. Nun muss man aber auch bedenken, dass es eine alte Tradition in der revolutionären Linken ist, ihre Gefangenen zu befreien. 1928 verhalf Olga Benario ihrem Lebensgefährten Otto Braun aus der Haft. Das war auch gängige Praxis bei den Tupamaros in Uruguay, wo mitunter hundert Gefangene auf einen Schlag befreit worden sind. Aber sich jahrelang allein darauf zu fokussieren, war natürlich dürftig. Wir bemerkten erst spät, zu spät, dass neue Bewegungen auch in der Bundesrepublik entstanden sind: die Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung, Hausbesetzerbewegung, die Frauenbewegung und, und, und.
Ich habe dies mehr oder minder im Gefängnis verfolgen können und kam zur Ansicht, dass unsere Ära vorbei war. Ich versuchte unseren Freunden und Anhängern draußen zu vermitteln, dass wir nicht alleine durch den Kosmos sausen und das Neue nicht ignorieren dürfen, uns mit den neuen sozialen und politischen Bewegungen auseinandersetzen müssen. Aber diese Auseinandersetzung erfolgte nicht oder eben zu spät.
Hat Ihnen Ihre Tätigkeit im Sozialistischen Patienten Kollektiv respektive Ihr Psychologiestudium geholfen, die Haft besser durchzustehen als andere Gefangene?
Ich habe die Haft nicht besser als die anderen überstanden. Die SPK-Erfahrung war dennoch nützlich, das Psychologiestudium hat überhaupt nix geholfen. Das war damals ganz am Behaviorismus orientiert: Der Mensch kann vermessen werden. Beispiel hierfür ist der Intelligenztest. So ein Quatsch nützte mir nichts.
Der 7. Stock in Stammheim war kein Sanatorium. Ich habe ein Dutzend Hungerstreiks gemacht. Ich bin in der Isolationshaft fast kaputt gegangen. 1981 habe ich einen Selbstmordversuch unternommen. Zum Glück ist es nicht so einfach, sich umzubringen. Anschließend habe ich in mich gehorcht und mich gefragt, was ich eigentlich will. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben.
Ist die RAF schuld an der Verschärfung der Gesetze und Einhegung des Rechtsstaates im Gefolge des Deutschen Herbstes?
Wir sind gewiss nicht ganz unschuldig daran, aber ich finde, der Anteil der RAF daran wird in Geschichtsdarstellungen maßlos übertrieben.
Die dichte Folge von Anschlägen 1977, Siegfried Buback im April, Jürgen Ponto im Juli und Schleyer im September, waren nur Vorwand für einen »wehrhafteren« Staat? Ein willkommener Anlass. Das nicht vorab erkannt zu haben, ist unsere Schuld. Aber man braucht sich nur mal die Bilder jüngst in Hamburg während des G20-Gipfel zu vergewärtigen: eine martialische Marsmenschen-Invasion, die auf alles eingeknüppelt hat, was kreucht und fleucht. Die RAF gibt es seit zwanzig Jahren nicht mehr. Staatliche Gewaltbereitschaft erlebt man heute weltweit. Wir nennen das in der Entwicklungszusammenarbeit »Shrinking Spaces«, schrumpfende Räume für Zivilgesellschaften. Sie werden überall deutlich eingeschränkt. Man schaue nur in die Türkei.
Unser Hauptpunkt war die Gegengesellschaftlichkeit. Es reicht nicht, den Kapitalismus zu negieren. Der Kapitalismus ist nicht durch einfache Negation abzuschaffen. Das war Lenins Modell, das sich nicht bewährt hat. Es muss bereits im Kapitalismus eine Produktions- und Lebensweise aufgebaut werden, die überzeugender ist als die kapitalistische. Ich halte das heute, da wir an der Schwelle zur digitalisierten Arbeit, Produktion und Dienstleistung stehen, für eine gewaltige Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Ob sich das als ein friedlicher Übergang in eine menschlichere Gesellschaftsform vollzieht, weiß ich nicht. Es wird wohl weiter Auseinandersetzungen mit den Profiteuren des Kapitalismus geben und zugleich Neues zu erleben sein.
»Es muss bereits im Kapitalismus eine Produktions- und Lebensweise aufgebaut werden, die überzeugender ist als die kapitalistische. Ich halte das heute, da wir an der Schwelle zur digitalisierten Arbeit, Produktion und Dienstleistung stehen, für eine gewaltige Herausforderung, der wir uns stellen müssen.«