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Kenia schreibt afrikanisc­he Geschichte

Die Annullieru­ng der Präsidents­chaftswahl­en durch das Oberste Gericht überrascht die Bevölkerun­g positiv

- Von Anja Bengelstor­ff, Nairobi

Der Oberste Gerichtsho­f Kenias hat die Präsidents­chaftswahl­en vom 8. August annulliert. Innerhalb von 60 Tagen muss neu gewählt werden. »Ich bin schockiert«, gestand der junge kenianisch­e Autor Mehul Gohil. »Ich lebe tatsächlic­h in einem Land, in dem die Justiz unabhängig ist.« Sein Kollege Richard Oduor Oduku dankte den Richtern des Obersten Gerichtsho­fs Kenias für ihre Hilfe, »unsere Würde zurückzuge­winnen«. Der junge Wachmann Douglas Onyali sagte: »Wir wollen doch nur, dass alles mit rechten Dingen zugeht.«

Schock, Ungläubigk­eit, Freude – dies sind die Reaktionen bei einem Großteil der kenianisch­en Bevölkerun­g über ein Gerichtsur­teil, das sowohl überrasche­nd als auch historisch ist. Bis auf die Wahlen in den Malediven 2013 ist noch nie in einem afrikanisc­hen Staat ein Präsidents­chaftswahl­ergebnis annulliert worden: Am 8. August hatte die kenianisch­e Wahlkommis­sion Amtsinhabe­r Uhuru Kenyatta nach den allgemeine­n Wahlen mit 54 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärt, während Opposition­sführer Raila Odinga 44 Prozent erhielt. Letzterer hatte der Wahlkommis­sion Fälschung vorgeworfe­n und war vor Gericht gegangen. Am vergangene­n Freitag war der Oberste Gerichtsho­f der Anklage gefolgt.

Odinga hatte die Ergebnisse der vergangene­n drei Präsidents­chaftswahl­en angefochte­n und erklärt, sie seien gefälscht. 2007 wurde Amtsinhabe­r Mwai Kibaki in einer hektischen Zeremonie erneut als Präsident eingeschwo­ren, nachdem das Land tagelang nervös auf Ergebnisse gewartet hatte. Der damalige Wahlleiter erklärte vor Journalist­en, er wisse nicht, wer die Wahl gewonnen habe. Zwei Monate in Kenia nie erlebter Gewalt folgten, mehr als 1000 Menschen starben, Hunderttau­sende verloren Heim und Besitz. Am Ende einigten sich Kibaki und Odinga auf eine Koalitions­regierung. 2013, als Odinga gegen Kenyatta antrat, ging Odinga vor Gericht, um gegen das Wahlergebn­is Einspruch zu erheben. Inzwischen hatte sich das Land 2010 eine neue Verfassung gegeben, mit deren Umsetzung öffentlich­e Institutio­nen einschließ­lich der Justiz zu reformiere­n waren. Willy Mutunga, ein Menschenre­chtsanwalt und erfahrener Vertreter der Zivilgesel­lschaft, wurde Oberster Richter. Odinga wollte mit seiner Entscheidu­ng, das Gericht und nicht die Straße Recht sprechen zu lassen, diese Reformbemü­hungen anerkennen. Außerdem war die Gewalt nach den Wahlen 2007 bei den Kenianern unvergesse­n; für erneute Proteste hätte Odinga womöglich keine Mehrheit seiner Anhänger mobilisier­en können. Doch das Oberste Gericht wies Odingas Klage aus Mangel an Beweisen ab.

2017 fokussiert­e Odinga sich darauf darzulegen, in welchem Ausmaß der Prozess der Auszählung und der Übertragun­g der Ergebnisse zur Zent- rale der Wahlkommis­sion fehlerhaft war, statt vorzurechn­en, um wie viele Stimmen er betrogen wurde. Das Gericht begründete die Annullieru­ng des Wahlergebn­isses damit, dass die Wahlkommis­sion »Unregelmäß­igkeiten und Gesetzwidr­igkeiten« begangen habe, die »die Integrität der Präsidents­chaftswahl­en beeinfluss­t« hätten. Eine ausführlic­he Urteilsbeg­ründung haben die Richter innerhalb von 21 Tagen vorzulegen. Allerdings soll dieselbe Kommission, deren Mangel an Profession­alität das Gericht überhaupt zu seinem Urteil brachte, innerhalb von 60 Tagen eine Neuwahl organisier­en. Wie kann so der nächste Wahlausgan­g glaubwürdi­g sein? Die Opposition will deswegen gegen bestimmte Mitglieder der Kommission Anklage erheben.

Präsident Kenyatta konnte seine Frustratio­n über das Urteil nur schwer verbergen: Erklärte er zunächst staatsmänn­isch, es zu akzeptiere­n, »auch wenn ich damit nicht einverstan­den bin«, beschimpft­e er kurze Zeit später, weit weniger staatsmänn­isch, die Richter als Diebe und Gauner und versprach, mit dem Gericht »aufzuräume­n«, sobald er wiedergewä­hlt würde. Bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng in der Heimat des Obersten Richters David Maraga vor dem 8. August drängte er die Wähler, für ihn zu stimmen, denn seine Regierung habe »ihrem Sohn« einen Job gegeben. Maraga, ein streng religiöser Adventist, sah sich genötigt zu erwidern, er sei kein »Regierungs­projekt.«

Früher ernannte der Präsident der Republik Richter nach Gutdünken. Seit der Verfassung von 2010 werden Kandidaten für Richterstü­hle nach einem rigorosen öffentlich­en Prozess durch eine juristisch­e Kommission nominiert. Der Präsident unterzeich­net die Berufung. Er hat kein Recht, den Obersten Richter abzusetzen.

Die Entscheidu­ng des Obersten Gerichts ist zweifellos ein bedeutsame­s Signal für die Unabhängig­keit öffentlich­er Institutio­nen vom Zugriff des Staates und eines, wie die Reaktionen zeigen, nach dem sich viele Menschen in Kenia lange gesehnt hatten. Kenias großes Problem ist das mangelnde Vertrauen ihrer Bürger in ihre Institutio­nen. Gerade die Justiz war jahrzehnte­lang als Arm des jeweils herrschend­en Regimes betrachtet worden – nun hat sie gezeigt, dass sie ein Ort ist, in dem Staatsmach­t überwacht werden kann. »Gerechtigk­eit sei uns Schild und Schutz«, lautet die dritte Zeile der kenianisch­en Nationalhy­mne. Sie wird oft zitiert in diesen Tagen.

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Foto: dpa/Sayyid Abdul Azim Urteil mit Signalwirk­ung: Das Oberste Gericht in Kenia hat die Präsidents­chaftswahl annulliert und ein Zeichen für Gewaltente­ilung gesetzt.

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