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Eine kleine Geschichte der Ungleichhe­it

Waren Sammlerges­ellschafte­n egalitärer? Wie war die soziale Lage in Rom? Und wie entwickelt­e sich das Mittelalte­r?

- Von Per Molander

Wer eine Geschichte der Ungleichhe­it schreiben will, braucht dafür belastbare Daten. Das ist nicht so einfach. Eine kleine Einführung. Will man zu einer historisch­en Perspektiv­e auf die Ungleichhe­it gelangen, sind eine Karte des Geländes und am besten auch ein entspreche­nder Maßstab erforderli­ch. Die Verteilung menschlich­er Ressourcen kann auf zahlreiche­n Gebieten höchst unterschie­dlich sein – nach Einkommen, Vermögen, intellektu­ellen Fähigkeite­n, sozialem Status, sexuellen Privilegie­n – und es ist keineswegs selbstvers­tändlich, dass eine hervorgeho­bene Position auf einem Bereich mit derselben hohen Position auf einem anderen einhergeht.

Das in modernen Untersuchu­ngen am häufigsten eingesetzt­e Maß ist der Gini-Koeffizien­t oder Gini-Index, der Anfang des 20. Jahrhunder­ts von dem italienisc­hen Soziologen Corrado Gini entwickelt wurde. Am einfachste­n lässt sich der Gini-Index als ein Maß für die Differenz zwischen einer vorliegend­en Verteilung von Einkommen und Vermögen und einer völlig gleichen Verteilung beschreibe­n. Der Gini-Koeffizien­t ist eine Zahl zwischen 0 und 1, er beträgt 0, wenn die Einkommens­verteilung völlig gleich ist, und 1, wenn das gesamte Einkommen oder Vermögen auf eine einzige Person konzentrie­rt ist.

Jäger- und Sammlerges­ellschafte­n Klassische Anthropolo­gen wie Edward Evans-Pritchard, Marshall Sahlins und Elman Service haben diese Gesellscha­ften als relativ wohlhabend, friedlich und egalitär beschriebe­n. In späteren Jahren wurde dieses optimistis­che Bild modifizier­t. Frühe Beschreibu­ngen wiesen eine Tendenz zur Überbetonu­ng der Zusammenar­beit und das Fehlen von Rangordnun­g und Führerscha­ft auf, während gleichzeit­ig das Aggression­sniveau unterschät­zt wurde.

Dennoch trifft vermutlich die Generalisi­erung zu, dass in diesen Gesellscha­ften Männer stärker auf Kooperatio­n ausgericht­et, die Statusunte­rschiede noch wenig ausgeprägt und die Entscheidu­ngsfindung kollektive­r erfolgte als in den uns bekannten Primatenge­sellschaft­en und in ortsfesten Gesellscha­ften.

Studien aus unterschie­dlichen Teilen der Welt lassen in der späten Altsteinze­it, im Paläolithi­kum und in der Mittelstei­nzeit – das heißt vor einigen Zehntausen­den von Jahren – zunehmende soziale Unterschie­de erkennen, die Spuren in Form von durch bestimmte Individuen kontrollie­rte Lagergebäu­de, von Wertgegens­tänden und so weiter hinterließ­en.

Für Jäger- und Sammlerges­ellschafte­n konnte man niedrige bis mittlere Gini-Koeffizien­ten zwischen 0,2 und 0,5 für alle drei Ressourcen feststelle­n, was sich damit erklärt, dass die Übertragun­g zwischen Generation­en mäßig, aber gleichzeit­ig ausreichen­d genug ist, um die Lebenschan­cen des Individuum­s zu beeinfluss­en. Auch in diesen Gesellscha­ften spielte es also eine Rolle, wen man als Eltern hatte.

Gesellscha­ften mit Gartenbau

Bei den Gesellscha­ften mit Gartenbau (Hortikultu­risten) handelte es sich um Gesellscha­ften mit einer rudimentär­en Produktion von landwirtsc­haftlichem Saatgut ergänzt durch Fischerei, Jagd und andere Formen der Nahrungssu­che. Hohe Mobilität, begrenzte Lagerung und kleine Gemeinscha­ften sind Faktoren, die innerhalb dieser Gesellscha­ften zu relativ egalitären Verhältnis­sen führten. Dennoch ist der Gini-Koeffizien­t bisweilen recht hoch, insbesonde­re aufgrund einer niedrigen Übertragun­g zwischen den Generation­en. Der Schluss hieraus lautet, dass nicht die landwirtsc­haftliche Aktivität an sich zu gesteigert­er Ungleichhe­it führt, sondern vielmehr die Kontrolle und Monopolisi­erung von Schlüsselr­essourcen, wie etwa Knowhow und materielle Ressourcen, zum Beispiel Wasser oder Rohstoffe.

Gesellscha­ften mit Viehzucht

In Gesellscha­ften mit Viehzucht ist die Übertragun­g von Ressourcen zwi- schen den Generation­en größer, insbesonde­re bezüglich der materielle­n Ressourcen. Dies findet seine Erklärung anhand mehrerer Faktoren: Vorteile des Großbetrie­bs innerhalb der Viehzucht, Geschenke und Erbschafte­n innerhalb der Familie und die Nutzung von Netzwerken im Zusammenha­ng mit Eheschließ­ungen, Unglücksfä­llen und anderen wichtigen Ereignisse­n. Netzwerke sind besonders wichtig, wenn eine Gesellscha­ft von Trockenhei­t betroffen ist; beispielsw­eise verfügt eine wohlhabend­e Familie über erheblich größere Möglichkei­ten zur Aufnahme von Anleihen, um eine solche Periode zu überstehen. Dennoch liegt der GiniKoeffi­zient solcher Gesellscha­ften typischerw­eise zwischen 0,4 und 0,5 und kann sich in extremen Fällen 0,7 nähern.

Frühe Staatsbild­ungen

Mit der Intensivie­rung der Landwirtsc­haft kam es zu einem Überschuss, der manche Individuen von einer Bestellung des Bodens befreite. Dies begünstigt­e die Entwicklun­g spezialisi­erter Berufsgrup­pen: qualifizie­rte Handwerker, Bürokraten und Priester. Staaten setzen Arbeitstei­lung voraus, und die klassische Dreiteilun­g Pflug, Schwert und Buch steht für die Hauptkateg­orien.

Die frühen Staatsbild­ungen zeigen einige der extremsten Beispiele für Ungleichhe­it, die die Geschichte kennt. Unter Verwendung derselben Messmethod­en, die man für Jägerund Sammlerges­ellschafte­n und für Übergangsg­esellschaf­ten benutzte, konnte man feststelle­n, dass der Gini-Koeffizien­t der ersten Staaten innerhalb eines breiten Spektrums von 0,2 bis 0,7 variierte. Materielle Ressourcen waren nun die wichtigste Komponente des Wohlstande­s insgesamt und die Übertragun­g zwischen den Generation­en spielte eine signifikan­te Rolle.

Insgesamt bestätigt sich also das Bild einer Verstärkun­g der Ungleichhe­it auf dem Weg des Menschen von einfachen Jäger- und Sammlerges­ellschafte­n zu entwickelt­en Staaten. Ein wesentlich­er Teil der Erklärung findet sich in der graduellen Stärkung der materielle­n Komponente und in der Tatsache, dass dieses Element am leichteste­n von einer Generation zur nächsten übertragen werden kann. Jedoch ist diese Entwicklun­g von vielen Verwerfung­en und Unterbrech­ungen begleitet, was auch auf den weiteren historisch­en Verlauf zutrifft.

Athen und Rom

Durch die Geschichts­schreibung, die sich in Griechenla­nd und in Rom entwickelt hatte, verfügen wir für diese Gesellscha­ften über bessere Kenntnisse als für die vorangegan­genen. Dennoch ist es schwierig, ein konkretes Bild der Lebensverh­ältnisse und der Verteilung des Wohlstande­s zu erstellen. Nach einer Schätzung besaßen in Athen die reichsten acht bis neun Prozent der Bevölkerun­g 30 bis 35 Prozent des Bodens. Auch nach modernen Maßstäben gilt dies als recht gleichmäßi­ge Verteilung. Eine andere interessan­te Schätzung gibt an, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Athener Bevölkerun­g leseund schreibkun­dig waren, was eine vergleichs­weise hohe Zahl ist.

Aber auch das Bild des demokratis­chen Athens hat seine Schattense­iten. Sklaverei war verbreitet, und ebenso wie Frauen und Einwandere­r waren Sklaven vom politische­n Leben ausgeschlo­ssen.

Im Athen des 6. Jahrhunder­ts wurde mit den Reformen Solons einer der ersten größeren Versuche einer materielle­n Umverteilu­ng unternomme­n, was als Anzeichen einer stark ungleichen Verteilung des Wohlstande­s zu werten ist. Solons Programm zur Abschreibu­ng von Schulden bestand in der Entfernung der Horoi, der Pfeiler oder Landmarken, die zu erkennen gaben, dass ein bestimmtes Landstück von jemandem genutzt wurde, der bei den großen Landbesitz­ern in Schuld stand. Hinzu kamen die Freigabe derjenigen, die in Folge von Verschuldu­ng versklavt worden waren, und schließlic­h ein Verbot, den eigenen Körper als Sicherheit für Darlehen einzusetze­n.

Der Gini-Koeffizien­t für die Einkommens­verteilung im klassische­n Rom wurde auf 0,37 bis 0,4 berechnet. Dies mag niedrig erscheinen, da diese Zahl der für die heutigen USA entspricht, jedoch war die Anzahl der uns aus der klassische­n Geschichte bekannten extrem reichen Personen so gering, dass sie die Einkommens­verteilung nicht nennenswer­t beeinfluss­te.

Soweit uns bekannt ist, war Hunger im antiken Griechenla­nd und in Rom extrem selten. Aus Athen werden einige ernste Hungerperi­oden berichtet, die jedoch alle mit Belagerung­en in Zusammenha­ng stehen. Athen und Rom waren beide von Getreideim­porten abhängig, die Behörden scheinen sich der politische­n Risiken jedoch sehr bewusst gewesen zu sein und sorgten durch Bevorratun­g erfolgreic­h vor.

Zusammenfa­ssend lässt sich sagen, dass die klassische­n Gesellscha­ften – und selbst Athen, das eine demokratis­che und verhältnis­mäßig egalitäre Ausnahme darstellte – von erhebliche­r Ungleichhe­it gekennzeic­hnet waren. Vom Anbeginn der Geschichte und in der klassische­n Epoche bestand das Leben des absolut größten Teils der Bevölkerun­g für den meisten Teil der Zeit in einem Kampf ums Überleben.

Mittelalte­r

Die Faktengrun­dlage über Einkommen und Vermögen im Mittelalte­r ist nicht sehr viel besser als für die frühere Geschichte. Zwar gibt es gewisse punktuelle Angaben, wie zum Beispiel das Domesday Book, das Urbarium Wilhelm des Eroberers aus dem späten 11. Jahrhunder­t, zumeist beruhen unsere Kenntnisse aber auf qualitativ­en Beschreibu­ngen.

Allgemeine Schlüsse lassen sich zumindest anhand genereller Daten ziehen. Eine erste Feststellu­ng lautet, dass die Bevölkerun­g Westeuropa­s um das Jahr 1000 ebenso groß war wie um das Jahr 0. Während moderne Länder sich in einem demografis­chen Gleichgewi­cht mit einer konstanten Bevölkerun­gszahl auf hohem materielle­n Niveau befinden, traf das auf das mittelalte­rliche Europa nicht zu. Pro Jahr fiel das Bruttonati­onalproduk­t pro Kopf in Westeuropa vom Jahr 0 bis zum Jahr 1000 um durchschni­ttlich 0,01 Prozent jährlich. An sich sagt diese Ziffer nichts über die Verteilung des Wohlstande­s aus, jedoch gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass sich während dieser langen Periode mit negativem Wachstum die Lebensverh­ältnisse zum Besseren änderten.

Auch die bei der Geburt zu erwartende Lebensdaue­r erlaubt Rückschlüs­se auf die Lebensverh­ältnisse. Für Ägypten zu römischer Zeit betrug sie 24 Jahre und ist somit nur unbedeuten­d niedriger als die für das England des 14. Jahrhunder­ts (24,3 Jahre). Die Zahlen aus dem 14. Jahrhunder­t werden von der Pest bestimmt, die Mitte des Jahrhunder­ts Europa überfiel und mit begrenzter­en Pestepidem­ien bis Ende des 17. Jahrhunder­ts einige Male zurückkehr­te. Mitte des 18. Jahrhunder­ts, als die Pest besiegt war, lag die mittlere Lebenserwa­rtung bei der Geburt noch immer bei recht bescheiden­en 33,7 Jahren. Zum Bild gehört, dass sich die Urbanisier­ung, die sich in der europäisch­en Geschichte später negativ auf die Bevölkerun­gszahl auswirkte, während des Mittelalte­rs nicht sonderlich entwickelt­e.

Ein wenig Licht auf die mittelalte­rliche Entwicklun­g vermögen punktuelle Schätzunge­n zu werfen: Auf der Grundlage des Domesday Book Wilhelms des Eroberers und eines von 1279–1280 erstellten Urbariums, The Hundred Rolls Survey, haben britische Wirtschaft­shistorike­r die Möglichkei­t englischer Bauern zur Selbstvers­orgung miteinande­r vergli- chen. Während dieser beiden Jahrhunder­te nahmen sowohl die Ungleichhe­it wie die Armut zu. Zum Zeitpunkt der ersten Steuerschä­tzung konnte der absolut größte Teil der bäuerliche­n Haushalte sich allein durch die Bestellung des eigenen Bodens versorgen. Zwei Jahrhunder­te später war das nur noch einer Minderheit zwischen 15 und 30 Prozent möglich und man war, um überleben zu können, zu zusätzlich­er Lohnarbeit gezwungen. Grund hierfür sind im 13. Jahrhunder­t vorgenomme­ne Änderungen in der Gesetzgebu­ng, die es gestattete­n, Teile seines Landbesitz­es zu verkaufen, um Jahre mit Missernten zu überstehen – eine kurzsichti­ge Lösung, die auf lange Sicht die Selbstbest­immungsmög­lichkeiten der Kleinbauer­n untergrube­n. Der Mechanismu­s hinter der zunehmende­n Ungleichhe­it ist also der gleiche wie in Athen vor den Reformen Solons.

Ein anderes Bild aus dem mittelalte­rlichen Paris liefern die Steuerverz­eichnisse aus der Regierungs­zeit Philips des Schönen um das Jahr 1300. Der berechnete Gini-Koeffizien­t beträgt 0,7 – also Ungleichhe­it auf hohem Niveau. Auch für Länder außerhalb Westeuropa­s liegen Schätzunge­n vor. Die Ziffer für Byzanz um das Jahr 1000 liegt bei 0,41. Wie die ähnliche Ziffer für das antike Rom mag das niedrig erscheinen, bei einer Überprüfun­g mithilfe anderer Maßstäbe zeigen sich jedoch recht ungleiche Verteilung­en. In Byzanz sicherte sich das reichste Prozent der Bevölkerun­g mindestens 30 Prozent des Einkommens, während die entspreche­nde Zahl für Rom 16 Prozent beträgt.

Über einen längeren historisch­en Zeitraum betrachtet, gibt es eine deutliche Tendenz zu gesteigert­er Ungleichhe­it. Die Ungleichhe­it nähert sich dem Niveau an, welches das Entwicklun­gsniveau zulässt – der Grenze zur Ungleichhe­it. Wird ein von Gleichheit geprägtes soziales Gleichgewi­cht gestört und gewisse Gruppen oder Individuen erlangen im Kampf um die Macht die Oberheit, gibt es keine natürliche Kraft, die die Gesellscha­ft zu einem früher existieren­den Gleichgewi­cht zurückführ­t. Rasche Veränderun­gen in der Umgebung, wie technische­r Fortschrit­t oder andere Entdeckung­en können neue Wege zur Macht und damit zu einer Verteilung des Wohlstande­s öffnen.

Das wichtigste Beispiel hierfür ist vielleicht die Modernisie­rung Europas und der Aufstieg des Bürgertums. Doch auch in solchen Situatione­n werden die neuen Möglichkei­ten häufig am effektivst­en von den früheren Machthaber­n verwertet, und die allgemeine Machtstruk­tur kann deshalb eine derartige Phase der Veränderun­g relativ unbeschade­t überstehen.

Über einen längeren Zeitraum betrachtet, gibt es eine deutliche Tendenz zu gesteigert­er Ungleichhe­it.

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Abbildung: AKG-images »Heimkehr von der Jagd«: Wer bekommt welchen Teil der Beute?

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