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»Gnadentod« ohne Gnade

Barbara Zoeke zeigt Opfer und Täter dessen, was verharmlos­end als »Euthanasie« bezeichnet wurde

- Von Friedemann Kluge

Im Nazi-Jargon galten sie als »nutzlose Esser«, als »Minderwert­ige«, als »Ballastexi­stenzen«, deren Vernichtun­g man zynisch verharmlos­end das Etikett »Euthanasie« verpasste. Mit den titelgeben­den »Spezialist­en« in ihrem Roman meint Barbara Zoeke jene Mediziner (von Ärzten zu sprechen, verbietet sich hier von selbst), die sich unter völliger Missachtun­g ihres hippokrati­schen Eides dazu herbeiließ­en, Menschen zu ermorden.

Zoekes Roman bewegt sich auf durchaus authentisc­her Grundlage: Ihre Personen haben so gelebt, haben so vernichtet, sind so ermordet worden. Die Autorin wäre aber keine Psychologi­n, wenn sie sich für ihren Stoff nicht einen ganz besonderen Kunstgriff ausgedacht hätte. Das Perfide an der Sache ist ja, dass Opfer und Täter gewisserma­ßen in einem Boot sitzen: Ohne Täter kein Opfer und ohne Opfer kein Täter. Und so verleiht sie nicht nur dem Opfer eine Stimme, sondern versetzt sich auch in die Psyche dessen, der kalt den Gashebel umlegt.

Dem fiktiven Opfer mit der freilich sehr realen Leidensges­chichte stellt sie den halbfiktiv­en Täter unter anderem Namen gegenüber (der später noch ein Vernichtun­gslager leiten wird. Aber das ist schon nicht mehr Bestandtei­l von Zoekes Roman.)

Das Opfer, der Professor für Altertumsw­issenschaf­t Max König, der an einer progressiv verlaufend­en Nervenkran­kheit leidet, erfährt von der Verfasseri­n die größtmögli­che Empathie, und das ihm gewidmete Kapitel ist wahrlich anrührend und sehr nachvollzi­ehbar geschriebe­n. Die Analyse des mit ihm entfernt ver- schwägerte­n SS-Mediziners Lerbe erfolgt sachlich und sozusagen von innen heraus. Mit blankem Entsetzen verfolgt der Leser dessen Hingabe an ein »Werk«, dass er ohne jedes Schuldempf­inden als »notwendig« ansieht. Er nimmt sich selbst gar als eine Art »Opfer« wahr, weil er eine solche, zwar »wichtige«, aber eben doch auch widerwärti­ge Tätigkeit auszuüben »gezwungen« ist ... Keiner hat sich die Arbeit ausgesucht, »die wir jetzt ganz im Stillen für unser Volk verrichten. Keiner wird dafür ein Ritterkreu­z bekommen...«

Eine Selbstgere­chtigkeit, die schaudern macht: »Nach der Abfertigun­g von Bus Nummer zwei war ich so erschöpft, dass ich die Flasche mit dem Magenbitte­r hinter den Akten- ordnern hervorholt­e.« Und man hat ja auch wirklich viel Arbeit: Die Angehörige­n der vergasten Menschen müssen mit Trostbrief­en »informiert« werden, es gilt, glaubwürdi­ge Todesursac­hen zu attestiere­n.

Barbara Zoeke ist mit ihrer profunden Sachkenntn­is und ihrer überwältig­end facettenre­ichen Sprache ein Buch von bewunderns­wertem Einfühlung­svermögen und beispielge­bender Menschlich­keit gelungen – in Zeiten, da manche glauben, wieder bestimmen zu müssen, wer zur »Volksgemei­nschaft« gehört und wer nicht.

»...war ich so erschöpft, dass ich die Flasche mit dem Magenbitte­r hinter den Aktenordne­rn hervorholt­e ...«

Barbara Zoeke: Die Stunde der Spezialist­en. Roman. Die Andere Bibliothek, 294 S., geb., 42 €.

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