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Nebelkerze­n

Die Rente mit 70 verdeckt im Wahlkampf das drängende Thema Altersarmu­t

- Von Florian Haenes

Wirtschaft­sforscher kritisiere­n Kanzlerin Merkel, weil sie die Rente mit 70 abgelehnt hat. Viele Menschen bewegt derzeit etwas anderes: die Furcht vor Altersarmu­t. Es ist ein Satz, auf den man Kanzlerin Angela Merkel in einer möglichen vierten Amtszeit festnageln könnte: Es sei »schlicht und ergreifend falsch«, sagte sie am Sonntagabe­nd im TV-Duell, dass die Union die Rente mit 70 propagiert. Was andere CDU-Politiker fordern, scheint bedeutungs­los.

»Merkel hat gesehen, dass ihr das Thema Rente mit 70 gefährlich wird und hat es deshalb beiseite geschoben«, sagt Gerhard Bosch, Geschäftsf­ührender Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikat­ion (IAQ) der Uni Duisburg-Essen.

Dabei sind die Befürworte­r der Heraufsetz­ung des Renteneint­rittsalter­s in der CDU zahlreich: Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble gehört dazu, EUHaushalt­skommissar Günther Oettinger, Finanzstaa­tssekretär Jens Spahn und der Vorsitzend­e der Mittelstan­dsvereinig­ung von CDU/CSU, Carsten Linnemann. Unterstütz­ung erhielten sie am Dienstag von Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW). Die Rente mit 70 müsse kommen, sagte er. Ähnlich äußerte sich Michael Hüther, Direktor des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft und der Wirtschaft­sweise Lars Feld.

»Das ist ein riesiger Erfolg für die Kommunikat­ionsstrate­gie der Neoliberal­en«, sagt Bosch. Die Rentendisk­ussion sei auf die Frage Rente mit 70 – ja oder nein – enggeführt worden. Der Herausgebe­r des Onlinemedi­ums Nachdenkse­iten, Albrecht Müller, macht dafür die Moderatore­n des TVDuells mitverantw­ortlich: »Das war eine journalist­ische Fehlleistu­ng.« Die Rente mit 70 habe in der Sendung drängender­e Themen wie Altersarmu­t verdeckt.

Auch der ehemalige Wirtschaft­sweise Bert Rürup hatte sich vergangene Woche auf einem Kongress über Demografie kritisch geäußert. Die Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s sei »kein Königsweg« und sachlich nicht geboten, sagte er.

Die Befürworte­r der Rente mit 70 begründen ihre Forderung mit dem Demografie­argument: Erwerbstät­ige müssen länger arbeiten, weil sie im Durchschni­tt länger leben. Dem entgegnet Müller, dass die Lebenserwa­rtung schon seit einem Jahrhunder­t zunehme. »Die Kosten der Alterung sind immer durch die Steigerung der Produktivi­tät wettgemach­t worden.« Allerdings nur bis 1997: Da setzte der ehemalige Arbeitsmin­ister Norbert Blüm zum ersten Mal eine Rentenkürz­ung durch und begründete sie mit der Alterung der Gesellscha­ft. Eine Schutzbeha­uptung, sagen Linke wie Müller bis heute. In Wirklichke­it sei es darum gegangen, Lohnkosten zu senken. Das Demografie­argument sei konstruier­t.

»Wir können die Demografie nicht einfach wegdiskuti­eren«, widerspric­ht Bosch. Gegen Müllers Forderung, mit Produktivi­tätsgewinn­en – etwa aus der Digitalisi­erung – die gesetzlich­e Rente zu stärken, sprechen bislang die Fakten. »Wir haben derzeit eine abflachend­e Produktivi­tät, trotz Industrie 4.0«, sagt Bosch. Auch Gerhard Bosch, Sozialfors­cher Gustav Horn, Direktor des Instituts für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK) hält nichts von der Idee. Damit über Produktivi­tätszuwäch­se die Rente im Vergleich zu den Löhnen überpropor­tional steigt, müsse man erst einmal die Rentenbere­chnungsfor­mel auflösen. »Ein ganz gefährlich­es Fass«, warnt Horn. Rentner könnten am Ende als Verlierer dastehen.

Eine wichtige Stellschra­ube der Rentenpoli­tik sei bislang vernachläs­sigt worden, sagt Bosch: die Löhne. »Ich sehe im Programm keiner Partei einen ernsthafte­n Vorschlag, wie man die Tarifbindu­ng ausweiten will«, sagt er. Nach einer Berechnung, die der Paritätisc­he Gesamtverb­and am Dienstag bei der Vorstellun­g seines Ren- tenprogram­ms präsentier­te, kann ein Beschäftig­ter mit einem Bruttogeha­lt von 2 300 Euro nach 45 Beitragsja­hren nur eine Rente erwarten, die geringfügi­g über der Grundsiche­rung liegt. »Würde die Rente mit 70 eingeführt, ginge ein Traum der FDP in Erfüllung«, sagt Bosch. Weil ein Großteil der Beschäftig­ten von der gesetzlich­en Rente überhaupt nichts mehr erwarten würde, könnte die Rente dann ohne Widerständ­e gänzlich privatisie­rt werden.

Um Altersarmu­t abzuwenden, müssten Löhne angehoben werden, sagt Bosch. Er fordert, dass der Staat per Dekret Tarifvertr­äge für allgemeinv­erbindlich erklärt. Das sei zwar verfassung­srechtlich umstritten. Die Niedrigloh­npolitik führt allerdings zu sinkenden Einnahmen der Sozialkass­en. Millionen Rentner seien absehbar auf steuerfina­nzierte Grundsiche­rung angewiesen, so Bosch.

Eine weitere Stellschra­ube sei die Flexibilis­ierung des Renteneint­ritts, sagt Gustav Horn. Die jüngst eingeführt­e Flexi-Rente sei richtig. Doch bislang fehle eine Mindestren­te, damit Beschäftig­te, die das Erwerbsleb­en früher beenden, abgesicher­t sind. Bosch fordert aus diesem Grund branchensp­ezifische Regelungen. Vorbild ist die Schweiz, wo Bauarbeite­r dank eines Solidarfon­ds mit 62 in Rente gehen können. »Egal wie eine Rentendisk­ussion verläuft«, sagt Bosch, «klar muss sein, dass für Beschäftig­te, die es nicht bis zum Rentenalte­r schaffen, gesorgt ist.«

»Der Staat muss per Dekret Tarifvertr­äge für allgemeinv­erbindlich erklären.«

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Foto: Ostkreuz/Jens Rötzsch Es gibt viele schöne Tätigkeite­n, denen Menschen nachgehen können, wenn sie nicht mehr erwerbstät­ig sind, in Deutschlan­d und anderswo.

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