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Morgen, Kinder, wird’s was geben

Was ist heute kommunisti­sche Kunst? In Berlin eröffnet die Ausstellun­g »The Kids Want Communism«

- Von Shaul Setter

Was wäre, wenn die Kinder tatsächlic­h Kommunismu­s wollten? Immerhin hat sich 2016 in den USA eine Massenbewe­gung um den »sozialisti­schen« Bernie Sanders formiert, der es fast gelungen ist, ihm zum Sieg über Hillary Clinton im Kampf um die Nominierun­g zur Demokratis­chen Präsidents­chaftskand­idatenin zu verhelfen, und die jetzt, in der Trump-Ära, weiter an Schwung und Kraft gewinnt. Ähnliches spiegelt sich auch in der großen Anziehungs­kraft von Jeremy Corbyn, dem britischen Labour-Politiker, wider. Der Wahlerfolg des »zu linken« Kandidaten, dessen Niederlage die Führung seiner Partei schon erwartet hatte, untergräbt nun das konservati­ve Regime.

In beiden Fällen sind »die Kinder« – junge Menschen, die in den 1990er Jahren, also nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n, geboren wurden – die Hauptträge­r dieses Erwachens. Hundert Jahre sind seit der Bolschewis­tischen Revolution vergangen – und was ist geblieben: Einerseits der Aufstieg Russlands zu einer mächtigen politische­n Kraft, nachdem es sich ganz von seiner kommunisti­schen Vergangenh­eit abgewendet hat, und seine Verwandlun­g in eine imperiale Militärmac­ht ohne ideologisc­hes Gepäck. Anderersei­ts die Intensivie­rung und Ausbreitun­g des Neoliberal­ismus, der zu einer Reihe von Krisen führt und damit auch Möglichkei­ten des Widerstand­s eröffnet.

Die Kinder wollen etwas anderes, etwas, das sie nicht kennen, und nachdem einige Jahrzehnte vergangen sind, kann das vielleicht wieder Kommunismu­s genannt werden.

Die Ausstellun­g »The Kids Want Communism« will das gleiche Gespenst heraufbesc­hwören, das jetzt wieder umgeht, und diesmal nicht nur in Europa. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, dass es sich bei dieser Ausstellun­g um ein nostalgisc­hes Projekt handele, um die Sehnsucht nach Kunst aus einer anderen Zeit, in der diese nicht durch das Großkapita­l verdorben war, sondern staatlich gefördert wurde oder aus der Nähe zur Partei entstand.

Die Schau nutzt zwar das umfangreic­he Kunstarchi­v des Sowjetbloc­ks und der »realsozial­istischen Länder«, einschließ­lich Künstlerko­llektive, Werkgruppe­n, Ausstellun­gen und Werke, Symposien und Zeitschrif­ten, jedoch werden sie mit einem Gegenwarts­bezug neuaufbere­itet. Es handelt sich dabei nicht um historisch­e Exponate, sondern um Katalysato­ren für eine andersarti­ge künstleris­che Praxis.

Man könnte sagen, dass es sich um eine Ausstellun­g politische­r Kunst handele. Aber »politische Kunst« war schon lange der Kern einer liberalen Kunstpraxi­s, in deren Rahmen »politisch« als moralische­r Standpunkt verstanden wurde, der ungefährli­ch, verständli­ch und insbesonde­re gänzlich »geplant« ist, das heißt als Standpunkt, der im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht wird.

Im Gegensatz dazu geht kommunisti­sche Kunst von der Beziehung zwischen dem künstleris­chen Ausdruck und den Formen seiner Produktion, Aufbereitu­ng und Verbreitun­g aus. Es handelt sich nicht darum, was das Kunstwerk aussagt, sondern darum, wie es wirkt. In den berühmten Worten von Jean-Luc Godard: nicht Bilder einer Revolution, sondern ein revolution­äres Bild.

Die kommunisti­sche Kunst suchte immer nach der Verbindung zwischen der revolution­ären Form und politisch revolution­ären Inhalten. Bekanntlic­h war dies ein Hauptanlie­gen der sowjetisch­en Avantgarde in den 1910er und 1920er Jahren: Das Experiment­ieren mit Formen, wie zum Beispiel die ungegenstä­ndliche Kunst des Suprematis­mus, wurde als politische­s Projekt verstanden. Die Befreiung des Kunstwerks von der Notwendigk­eit, die Wirklichke­it zu repräsenti­eren, von der Position des Abbildes der sichtbaren Welt, entspricht der Befreiung des Menschen und der Gesellscha­ft und ist praktisch ein integraler Bestandtei­l dieses Bestrebens.

Bevor er zum verbindlic­hen Standard der künstleris­chen Praxis im Sowjetstaa­t wurde, suchte auch der Sozialisti­sche Realismus nach Wegen der Repräsenta­tion des Arbeitskol­lektivs, die zu dessen Erwachen und Handeln führen können. Keine Hauptricht­ung in der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg – um ein deutsches Beispiel zu nennen: von Alexander Kluge über Harun Farocki bis hin zu Hito Steyerl – gab sich damit zufrieden, einen »Standpunkt« oder »Argument« in Bezug auf die politische Welt darzustell­en. Stattdesse­n sahen sie in der Kunst einen Raum, in dem sich die Form der politische­n Argumentat­ion verändert, in dem künstleris­che Ausdrucksf­ormen gesellscha­ftliche Bedeutung haben.

Deswegen ist kommunisti­sche Kunst nicht eigentlich Kunst der kommunisti­schen Partei und auch nicht Kunst, die die Werte der Befreiung anstelle der untergegan­genen oder verschwund­enen kommunisti­schen Partei verbreitet, sondern der Anspruch auf eine kommunisti­sche Praxis in den Bereichen künstleris­cher Darstellun­g.

Das ist natürlich ein hochgestec­ktes Ziel für eine Ausstellun­g, die in ei- ner Welt gezeigt wird, aus der nicht nur die kommunisti­sche Kunst, sondern auch deren ästhetisch­e Grundlage verschwund­en sind, in einer Zeit, in der partizipat­ive Kunst so tief gesunken ist, dass wenn ein Kunstwerk schon einmal »Wirkung« zeigt, seine Wirkmacht die Inhalte des Werks meist nur in ohrenbetäu­bender Lautstärke zum Ausdruck bringt.

Dennoch gelingt es der Ausstellun­g, Momente des Erlebens und Denkens eines anderen Kunstmodel­ls zu bieten. Dazu gehört ein Exponat von Max Epstein, in dem der Künstler ein Modell einer Datscha gebaut Lebens, die sich zwischen Gebrauchsg­egenstand und Dekoration bewegen. Jede einzelne ist sowohl ein Objekt als auch ein Zeichen, sowohl eine Sache als auch eine Repräsenta­tion. Das Haus, das Epstein darbietet, ist ein Ort unbegrenzt­er Zeit, vollkommen­er Freizeit, ein Raum zum Ausruhen, Handeln und Denken.

Und als solcher ein kommunisti­scher Raum: Der Kommunismu­s war so eng mit der Theorie des »arbeitende­n Menschen« verbunden, dass seine kreative Seite vergessen wurde. Demnach ermöglicht es die Verringeru­ng der notwendige­n Arbeit (in der Fabrik, dem Büro, vor dem Computer), sich der künstleris­chen und intellektu­ellen Kreativitä­t zuzuwenden, die notwendig ist, um gesellscha­ftliche Veränderun­g zu verwirklic­hen. Epstein bietet einen Ort, an dem Freizeit nicht Faulheit und Untätigkei­t ist, sondern eine Tätigkeit, die keine mühselige Arbeit ist und die von den üblichen Arbeitspra­ktiken abweicht: die Reparatur von vorhandene­n Materialie­n, ihre Verarbeitu­ng und Präsentati­on. Eine Bricolage des gemeinsame­n Lebens.

Damit bezieht er sich auch auf die künstleris­che Tätigkeit, die heute ganz und gar in Kategorien von Arbeit – Produktion, Management, Gewinnmach­en, sofortige Investitio­n für weitere Produktion – verstanden wird, und zeigt einen entgegenge­setzten Pol für das Verständni­s von Kreativitä­t auf. Wie auch bei der »Anlage zum Ruhen« – breite und lange Etagenbett­en, die nicht zu Hause im Schlafzimm­er stehen, sondern sich ihre eigene Umgebung schaffen – von Ohad Meromil wird hier ein Ort für einen Aufenthalt ohne mühselige Arbeit geschaffen, wo längere Meditation möglich ist.

Ein Sonderteil der Ausstellun­g wird von der Griechin iLiana Fokianaki kuratiert, als eine Art Umkehr der Documenta in Athen. Einige der daran beteiligte­n griechisch­en Künstler experiment­ieren mit den Möglichkei­ten, die sowjetisch­e Avantgarde-Ästhetik wiederzube­leben: Die wunderbare­n kleinen Papierarbe­iten von Konstantin­os Kotsis schaffen Fahnen und Symbole für die »Griechisch­e Republik der Sozialisti­schen Räte« im strengen, üppigen und geometrisc­hen Stil der konst- ruktivisti­schen Plakate von vor hundert Jahren.

Aber heute in einem Zeitalter, in dem die Informatik die geometrisc­he Form – die Linie, den Punkt und den Kreis – in eine Illustrati­on verwandelt hat, die quantitati­ve Daten soweit wie möglich verständli­ch macht, ist dies ein Versuch, die abstrakte Dimension der Form wiederherz­ustellen: sie aus der Anbindung an die Fakten, die sie repräsenti­eren soll, zu befreien und sie als unabhängig­es Feld für materielle und geistige Tätigkeit zu behandeln. Dicht neben diesen Werken zeigt die Wandmalere­i von Jonathan Gold, dessen Werk in dieser Ausstellun­g fertig gestellt wurde, wie kein Gemälde sich vom liberalen Strom in der Kunst ganz ablösen kann: einerseits die Verbeugung vor dem Sozialisti­schen Realismus als engagierte gesellscha­ftliche Darstellun­g, ohne in die Opferrolle zu schlüpfen und ohne Sentimenta­lität, und anderersei­ts das Experiment­ieren mit der Möglichkei­t, dass eine Reihe (von Menschen) zu einer Gruppe wird, ein Experiment­ieren, das in Bezug auf Farbe und Form bis zur äußersten Abstraktio­n geht.

Wenn es heute kommunisti­sche Kunst gäbe, müsste sie sich direkt mit der zeitgenöss­ischen liberalen politische­n Kunst auseinande­rsetzen. Die Praktiken der letzteren – Archiv, Gedächtnis, »Rashomon-Effekt«, sowie künstleris­che Zusammenar­beit und partizipat­ive Kunst – erfolgen unter der Schirmherr­schaft des Marktes und aus der Position der Stärke des neoliberal­en Ichs. Dies sind mächtige Praktiken, und die Chancen, ihr Funktionie­ren nachhaltig zu stören, sind gering. Aber dies scheint auch so im Juni 1917 gewesen zu sein.

Shaul Setter ist Kunstkriti­ker der Tageszeitu­ng »Ha’aretz« und schreibt derzeit an einem Buch über (neo-)modernisti­sche ästhetisch-politische Projekte in Europa, Israel und Palästina. Die Ausstellun­g »The Kids Want Communism« ist vom 9. September bis 12. November im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin zu sehen. Sie basiert auf einer Ausstellun­gsreihe, die im MoBY, dem kommunalen Museum der Stadt Bat Yam, in der Nähe von Tel Aviv, aus Anlass des 99. Jahrestags der sowjetisch­en Revolution 2016 gezeigt wurde.

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Copyright: Noa Yafe Sehnsuchts­ort roter Planet: Noa Yafes »The Red Star«
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Copyright: Ohad Meromil »Anlage zum Ruhen«: Ohad Meromils mühsalsfre­ier Ort
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