nd.DerTag

Herr Murphy, mein Freund Deniz und ich

Konzert von LCD Soundsyste­m in Berlin

- Von Thomas Blum

Die Zeit vergeht nicht, ohne ihre Spuren zu hinterlass­en. Weswegen wir mittlerwei­le alle drei ein kleines Bäuchlein haben: Herr Murphy, mein Freund und ich. Wir sind auch alle ungefähr gleich alt. Sofern man es mit den jeweils zwei, drei Jahren Unterschie­d zwischen uns nicht so genau nimmt.

Herr Murphy macht seit der Jahrtausen­dwende kritische, tanzbare Popmusik über dies und das. Mein Freund schätzt tanzbare Popmusik und schreibt kritische Zeitungsar­tikel über dies und das. Auch ich selbst mag Musik, meinen zuweilen recht engagiert tanzenden Freund und dies und das. Kurz: Uns drei verbindet eini- ges: das Bäuchlein, das Alter, die Beschäftig­ung mit Musik, das Tanzen, das Nichteinve­rstandense­in und dies und das.

Vorgestern trat Herr Murphy nach einer längeren Bühnenabst­inenz mit seiner Band zum ersten Mal seit sieben Jahren in Berlin auf, in Oberschöne­weide, im Konzertsaa­l des ehemaligen DDR-Funkhauses, einem der schönsten Räume Deutschlan­ds: gebaut in den 1950er Jahren, mit einer Decke, so hoch, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen kann, alle Wände komplett holzverkle­idet, Parkettbod­en, alles, wohin man schaut, ein einziges innenarchi­tektonisch­es Design-Gesamtkuns­twerk des Sozialismu­s, als dieser noch Geld hatte und es für schöne Dinge ausgegeben hat, die der Menschheit helfen sollten, zu einer besseren zu werden.

Herr Murphy heißt mit Vornamen James und ist New Yorker. Er hat vor 15 Jahren die Popmusik revolution­iert, indem er Disco und House mit dem Punk und Selbstiron­ie und Glamour mit dem Nichteinve­rstandense­in verschmolz. Seine Gruppe heißt LCD Soundsyste­m.

Mein Freund, von dem hier die Rede ist, heißt Deniz Yücel. Er arbeitet als Reporter für eine deutsche Tageszeitu­ng. Ich hätte ihn gern dabeigehab­t vorgestern, in einem der schönsten Räume Deutschlan­ds, tanzend zu einer Musik, die so gut zu ihm passt und die er so mag. Doch mein Freund weiß nicht einmal, dass Herr Murphy nach vielen Jahren eine neue Platte gemacht hat.

Denn er sitzt, ohne dass es überhaupt eine Anklage gäbe, unter erbärmlich­en Bedingunge­n in der Türkei in Isolations­haft, in einer Zelle, die weder eine hohe Decke hat noch einen Parkettbod­en und die gewiss auch kein Design-Gesamtkuns­twerk ist. Er sitzt dort seit 200 Tagen, weil er im Rahmen seiner Arbeit als Journalist kritisch über die Umtriebe und Machenscha­ften des gegenwärti­gen türkischen Staatspräs­identen berichtete. Doch in der Türkei gilt das als ein Verbrechen. Herr Erdogan, so ist zu vermuten, wird eines der erfolgreic­hsten Stücke von LCD Soundsyste­m, »Losing My Edge«, nicht kennen. Er weiß es nicht, aber: In dem Stück ist unter anderem auch von seiner Zukunft die Rede. »I’m losing my edge to better-looking people / With better ideas and more talent / And they’re actually really, really nice«, singt James Murphy da.

Auf dem Synthesize­r, der am Montagaben­d beim Konzert von LCD Soundsyste­m in Berlin-Oberschöne­weide ganz vorne am Bühnenrand stand, war ein Wort in Großbuchst­aben zu lesen: »RESIST«.

Sonntag, 10.September., »Korso zum Kanzleramt«, Auto- und Fahrradkor­so, danach Kundgebung für die Freilassun­g von Deniz Yücel, Mesale Tolu und Peter Steudtner. Treffpunkt: 12.30 Uhr, Kino Internatio­nal, Karl-Marx-Allee 33, Berlin.

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