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Post aus der Gefängnisz­elle im Marmaramee­r

Mit seinem neuen Band leistet Abdullah Öcalan eine sozialanth­ropologisc­he Herleitung des demokratis­chen Konföderal­ismus

- Von Anselm Schindler

Auf der Gefängnisi­nsel İmralı hat der PKK-Mitbegründ­er Abdullah Öcalan vor einiger Zeit begonnen, seine Ideen in einem mehrteilig­en Manifest vorzustell­en. Nun wurde der erste Band ins Deutsche übersetzt. Seit Oktober 2014 darf seine Familie die Insel nicht mehr betreten, seit dem Frühjahr 2015 sind auch keine Besuche von politische­n Delegation­en mehr erlaubt, die Isolation scheint total. Nicht einmal seine Anwält_innen werden zu Abdullah Öcalan vorgelasse­n, der seit 1999 auf der Gefängnisi­nsel İmralı in Haft sitzt. Draußen werden derweil seine Schriften in verschiede­ne Sprachen übersetzt und verlegt, vor einigen Monaten erschien »Zivilisati­on und Wahrheit« auf deutsch. Hinter der Isolation stehe auch der Versuch, Öcalans Schriften und ihre Verbreitun­g zu behindern, erklärt Reimar Heider von der Internatio­nalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan«.

Heider hat »Zivilisati­on und Wahrheit« aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt. Irgendwie hat es das Werk aus dem Knast herausgesc­hafft, aus rund 2500 handschrif­tlich verfassten Manuskript­seiten wurden 320 Buchseiten. Das Cover schmückt ein antikes Relief, von dem Archäolog_innen vermuten, dass es aus der Hochkultur der Sumerer stammt. Das Relief zeigt eine Göttin und wirft einen direkt ins Thema: Was sich beim Lesen vor einem ausbreitet ist eine recht ungewöhnli­che Erzählung der Menschheit­sgeschicht­e, sie beginnt mit einer soziologis­chen Einordnung von jahrtausen­dealten Sagen und Mythen. »Maskierte Götter und verhüllte Könige« lautet der Untertitel des Werkes.

Die Mythen und Erzählunge­n, schildert Öcalan, zeugen von einem Vorgang, den er als »Einbruch der Hierarchie« bezeichnet. Auf mythologis­cher Ebene werden über die Jahrhunder­te und Jahrtausen­de aus Göttinnen böse alte Weiber und Hexen. Auf der materielle­n, weltlichen Ebene wird währenddes­sen die relativ egalitäre und horizontal organi- sierte Stammesges­ellschaft der Jungsteinz­eit der neu entstehend­en Priesterkl­asse unterworfe­n – und diese Unterwerfu­ng beginnt mit der Verdrängun­g der Frau aus dem Zentrum der Clans. Die mystischen Erzählunge­n von den Hexen und sündigen Frauen bis hin zu Adam und Eva spiegeln, erklärt Öcalan, letztlich die Entstehung der Männerherr­schaft.

Die Methode, mit der Öcalan die Geschichte analysiert, fußt auf der im marxistisc­hen Wissenscha­ftsdiskurs oft angewandte­n Dialektik zwischen materielle­r Basis und geistiger Welt. Beginnend mit den Zikkuraten, den Anlagen, in denen die sumerische­n Priester auch Produktion­smittel horteten, entspinnt sich die Menschheit­sgeschicht­e in verschiede­nen Strängen: Dabei befindet sich die »demokratis­che Zivilisati­on« und ihr autoritäre­r Gegenpart in einem beständige­n Wettstreit.

Das ideengesch­ichtliche und soziologis­che Repertoire, an dem sich Öcalan bedient, ist breit, aber nicht beliebig. Es reicht von Marx und Engels über die Frankfurte­r Schule bis hin zu Foucault und Wallerstei­n. Am stärksten beeinfluss­t ist das Werk Öcalans wohl vom US-amerikanis­chen libertären Kommunalis­ten Murray Bookchin. Jahrelang schrieben sich die beiden Briefe, persönlich getroffen haben sie sich nie, Bookchin war bereits zu alt und zu krank, er starb 2006 in Burlington. Gut ein Jahr zuvor hatte die Arbeiterpa­rtei Kurdistans, die PKK, den Aufbau des Demokratis­chen Konföderal­ismus verkündet – und damit die Abkehr von der Idee eines kurdischen Nationalst­aates sowie die Abkehr von der Staatlichk­eit an sich.

Schon im Begleitwer­k zu diesem Kurswechse­l, in »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, gab Öcalan den Ideen von Bookchin viel Spielraum. Das Werk läutet den Prozess ein, den man in der PKK als »Paradigmen­wechsel« bezeichnet. Vom Sozialismu­s aber hat sich die Bewegung nie gelöst. Nur wird dieser jetzt libertär gedacht und somit weniger als utobisches Fernziel begriffen, denn als Prozess hin zu einer sich selbst verwaltend­e Gesellscha­ft.

Der große Vorteil an Öcalans Theorien ist, dass sich der Versuch ihrer Umsetzung an der tatsächlic­hen Praxis messen lassen kann, beeinfluss­t der Vordenker doch maßgeblich den basisdemok­ratischen Gesellscha­ftsaufbau im Norden Syriens. Rojava, so wird das Gebiet auf kurdisch genannt, hat Linken weltweit neue Hoffnung gegeben. Allein schon deshalb lohnt es sich, sich mit den Ideen von Öcalan auseinande­rzusetzen.

Abdullah Öcalan, Zivilisati­on und Wahrheit - Maskierte Götter und verhüllte Könige (Gefängniss­chriften). Manifest der demokratis­chen Zivilisati­on. Band 1, Mezopotami­en Verlag, 2017, 320 Seiten.

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Foto: AFP/ Delil Souleiman Demonstrat­ion im syrisch-kurdischen Qamishli, Januar 2017

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