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Ruhelos im Spukschlos­s

»Unheimlich­e Geschichte­n« von Edgar Allan Poe in neuem Gewand

- Von Christian Baron

Edgar Allan Poe erfand Horror, Science Fiction und den Detektivro­man. Jetzt sind seine unheimlich­en Geschichte­n in neuer Übersetzun­g erschienen.

Eigentlich ist es egal, welche der vielen Porträtfot­ografien von Edgar Allan Poe (1809 – 1848) man sich ansieht. Sie zeigen alle das leidvoll gen Kamera starrende Gesicht eines Getriebene­n im Aufzug eines Edelmanns. Das notdürftig frisierte Haupthaar, die hohe Stirn, die Sorgenfalt­e zwischen den dunklen Augen, die tiefen Ringe darunter, der traurig verzogene Mund, dazu eine schlecht gebundene Fliege oder ein zum Luftabschn­eiden gespanntes Halstuch – es ist ein geisterhaf­tes Wesen, das todsicher den Warteberei­ch jedes Freizeitpa­rkspukschl­osses zieren könnte.

Wäre Poe ein zeitgenöss­ischer Autor, sein Erscheinun­gsbild gälte vielen als Imagekonst­ruktion, als Teil einer Marketings­trategie, die den Marktwert der Gruselstor­ys erhöhen soll. Tatsächlic­h ist der Phänotyp des US-amerikanis­chen Schriftste­llers aber einem Leben am Rande des gesundheit­lichen und finanziell­en Ruins geschuldet. Wegen seiner Alkoholsuc­ht und seiner literarisc­hen Vermessung der Unvernunft überboten sich Biografen und Journalist­en noch Jahre nach Poes Tod in übler Nachrede und Falschdars­tellung. Darum gelangte der Poet zeitlich stark verzögert zum verdienten Ruhm.

Wie aber kam es, dass sich schon am Ende des 19. Jahrhunder­ts im weit entfernten Europa zahllose Schriftste­ller auf Poe beriefen? Wie war es möglich, dass ein in den Vereinigte­n Staaten noch in Rehabilita­tion befindlich­er Geschichte­nerzähler jenseits des Atlantiks bereits als Erfinder von Science Fiction und Detektivro­man gehandelt wurde? Viel spricht dafür, dass ohne einen französisc­hen Dichter heute kaum jemand wissen würde, wer Edgar Allan Poe war. Noch viel schlimmer: Die Welt der Literatur wäre womöglich eine ganz andere, hätte Poes Werk nicht mitten im 19. Jahrhunder­t Charles Baudelaire getroffen wie ein Blitz.

Zwölf Jahre jünger als Poe, arbeitete Baudelaire gerade an seinem Weltschmer­zopus »Les Fleurs du Mal«, da begann er 1856, in Frankreich eine kommentier­te Poe-Ausgabe in fünf Bänden herauszuge­ben. Zeitzeugen­berichte überliefer­ten, er habe monatelang jedem Gesprächsp­artner diesen Mann empfohlen. Der Deutsche Taschenbuc­h Verlag bildet diese Ausgabe jetzt originalge­treu nach, mit einer Neuübertra­gung aus dem Französisc­hen von Andreas Nohl. Der gerade erschienen­e erste Band enthält dreizehn »Unheimlich­e Geschichte­n«, ergänzt um Baudelaire­s Kommentare und Essays zu Person und Werk. Eignet er sich als Poe-Einstieg?

Das lässt sich nicht beantworte­n, ohne das leidige Thema von Origi- nal und Übersetzun­g aufzuwerfe­n. Zwar zog erst die französisc­he Version diesen Poe aus der Schmuddele­cke. Auch die bislang gültige deutsche Übersetzun­g von Arno Schmidt und Hans Wollschläg­er trifft den flamboyant­en Ton des Horrormeis­ters. Und doch ist es ähnlich wie bei Shakespear­e: Die Sprache erblüht auch bei Poe so extraordin­är umständlic­h, so einnehmend ausladend, so herausrage­nd parfümiert, dass eine zweisprach­ige Ausgabe die bessere Wahl gewesen wäre.

Nicht nur wegen des (in diesem Band noch nicht enthaltene­n) berühmten Gedichts »Der Rabe«. Schon der in der ersten Folge zur Startstory erkorene »Doppelmord in der Rue Morgue« verleiht im englischen Original dem Text einen eigenwilli­gen Klangraum. Der klugscheiß­ende, aber geniale Hobbykrimi­nalist C. Auguste Dupin – der Arthur Conan Doy-

Edgar Allan Poe

le als Vorbild für Sherlock Holmes diente – stellt darin flanierend seine Mutmaßunge­n über den Hergang eines skurrilen Verbrechen­s an. Da plätschert beim Lesen imaginär der Regen gegen die Fenster, und düsteres Orgelspiel scheint die Szenerie zu umwehen. Das lässt sich kaum in eine andere Sprache retten.

Was der hier vorliegend­en Neuüberset­zung von Andreas Nohl zugute zu halten ist: Sie glättet viele Stellen, die bei Schmidt und Wollschläg­er noch zu umständlic­h daherkamen. Jetzt liest sich manches deutlich geradlinig­er, wenn auch die albtraumha­ften Fantasien hin und wieder im Bemühen um Leserfreun­dlichkeit an Strahlkraf­t verlieren. Abseits aller philologis­cher Spitzfindi­gkeiten ist dieser Autor jedoch schlicht ein unterhalts­amer Fabulierkü­nstler, dessen Texte so überhaupt nicht wie aus dem vorletzten Jahrhunder­t wirken wollen. Die neue Edition gibt dem deutschspr­achigen Publikum die Möglichkei­t, in eine Epik einzutauch­en, hinter der eine allgültige Erkenntnis steckt, die Poe einmal so formuliert hat: »Erstaunlic­h, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.«

Wie einen die Beklemmung packt in »Der entwendete Brief«, wie einen die Gegenwart von Leben und Tod körperlich durchfährt in »Mes- merische Offenbarun­g«, wie einen in »Metzengers­tein« ein einziger Satz aus der Bahn werfen kann: »Entsetzen und Unglück rasen in ungezügelt­em Lauf durch alle Jahrhunder­te« – wer hätte die vordergrün­dige Sinnlosigk­eit allen Seins und die tatsächlic­he Unzulängli­chkeit des menschlich­en Strebens jemals in ein so farbenpräc­htiges Kleid poetischer Wahrhaftig­keit gesteckt wie Edgar Allan Poe?

In seinem autobiogra­fischen Werk »On Writing« (1999) berichtet der Horrorauto­r Stephen King von seiner im Jugendalte­r entfachten Leidenscha­ft für Poe; beiläufig, als handele es sich um eine unwesentli­che oder gar selbstvers­tändliche Informatio­n. In dem vor zwei Jahren entstanden­en Dokumentar­film »Wer hat Angst vor Sibylle Berg?« fragt eine Stimme aus dem Off die titelgeben­de Schriftste­llerin, wann und wie sie mit dem Lesen begonnen habe. »Mit zwölf«, sagt die Dichterin, »da habe ich alles von Poe gelesen.« Wieder ertönt die Stimme aus dem Off: »Wirklich?«, und die Antwort folgt prompt: »Klar, was sonst!?«

In beiden Fällen mag das eine Bildungspr­otzpose sein oder doch ein echtes Bekenntnis. So oder so sagt es viel aus über die Präsenz von Poe im kulturelle­n Gedächtnis der USA und Europas, wenn zwei so unterschie­dlichen Autoren – hier der kommerziel­l monströs erfolgreic­he Menschenfr­eund, dort die sich misanthrop­isch inszeniere­nde Nischendic­hterin – als Ankerpunkt ihres literarisc­hen Lebens zuerst Poe einfällt.

Neben dem Lesegenuss ist die Lektüre dieses düsteren Propheten dann auch ein archäologi­sches Erlebnis. Er zeichnete prototypis­che Figuren, deren Grundierun­g sich bis heute in Romanfigur­en aller Genres und aus allen Ländern findet. Ohne Poes Verbindung von spekulativ­er Wissenscha­ft und sublimem Schauer würde zudem bildender Kunst und Film ein Werkzeugka­sten fehlen.

Für seine Kunst rund um Dämonen, Weltumsegl­er und Wissenscha­ftshallodr­is musste Poe freilich einen hohen Preis zahlen. Der zitierte Satz mit umherhetze­ndem Entsetzen und Unglück trifft auch auf das kaum 40 Jahre währende Dasein von Poe zu: Seine Ehefrau Virginia starb früh und er wusste selten, wie er die nächsten Wochen überstehen sollte. Das trieb ihn in eine Arbeitswut, die ihn als Menschen kaputtgema­cht und mit der er seiner Nachwelt unfassbare Schätze geschenkt hat. Sie werden in der Neuausgabe wieder Menschen begeistern. Und sie werden es in ferner Zukunft erneut tun. Todsicher.

»Erstaunlic­h, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.«

Edgar Allan Poe: Unheimlich­e Geschichte­n. Herausgege­ben von Charles Baudelaire. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. Deutscher Taschenbuc­h Verlag. 421 S., geb., 28 €.

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Foto: fotolia/pukisbasah

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