nd.DerTag

Virtuelle Scheißhaus­parolen

Tagung des Landespräv­entionsrat­es befasste sich mit Strategien gegen Hasskommen­tare

- Von Andreas Fritsche

Die Hassrede wurde einst von den Faschisten quasi erfunden. Im Internet verbreitet sie sich heute in atemberaub­enden Tempo, sagte Innenminis­ter Karl-Heinz Schröter (SPD) in Potsdam. »Ich bin dafür, dass die Gaskammern wieder öffnen, und die ganze Brut da reinstecke­n.« Für diesen unzumutbar­en Kommentar im Internet gab es eine Geldstrafe von 4800 Euro. Auch andere Hasskommen­tare sind bereits strafrecht­lich verfolgt worden. Trotzdem gibt es täglich unzählige neue Hasskommen­tare. Sehr viel davon richtet sich gegen Flüchtling­e. Doch es leiden auch viele andere Opfer. Die Grenzen zum Cybermobbi­ng durch persönlich­e Beleidigun­gen unter Jugendlich­en sind fließend. Als sei dies alles nicht schon schlimm genug, wird es richtig gefährlich, wenn die Hetze irgendwann zu tätlicher Gewalt führt.

Die Hate Speech, die Hassrede in den sozialen Medien sind »keine Laune, keine vorübergeh­ende Mode, sondern ein Phänomen, dass uns noch eine ganze Weile begleiten wird«, vermutet Kay Kasüschke, Prävention­sbeauftrag­ter des Landes Brandenbur­g.

Am Mittwoch veranstalt­ete der Landespräv­entionsrat in PotsdamHer­rmannswerd­er eine Tagung »Hate Speech 2.0«. Freche Kinder und Scheißhaus­parolen auf öffentlich­en Toiletten habe es früher schon gegeben, hieß es dort. Doch die Möglichkei­t der Äußerung via Internet scheine die unanständi­ge Freude am Hasskommen­tar zu beflügeln. Die Tagung rückte Kinder und Jugendlich­e als Täter, Opfer und schweigend­e Zuschauer in den Mittelpunk­t. Hassreden schwingen allerdings auch Er- wachsene, nach dem Eindruck von Professori­n Dagmar Hoffmann von der Universitä­t Siegen sind es sogar vornehmlic­h ältere Generation­en, die als besonders schlimme Hetzer auftreten.

Mit Blick auf den laufenden Bundestags­wahlkampf bemerkte Innenminis­ter Karl-Heinz Schröter (SPD): »Was es an Hetze, Hassreden, Diskrimini­erungen tagtäglich gibt, dass hat es in Deutschlan­d noch nicht gegeben. Der Hass ist beinahe grenzenlos.« Die Hassrede sei natürlich nicht neu. Sie scheine in Deutschlan­d erfunden worden zu sein – in der Nazizeit, als Propaganda­reden aggressiv formuliert und betont worden sind. Doch durch das Internet, so erklärt Schröter, verbreiten sich Hassreden heute in atemberaub­enden Tempo, und sie multiplizi­eren sich.

Aber nur strafbare Inhalte können verfolgt werden, und die seien lediglich die Spitze des Eisbergs, bedauerte der Innenminis­ter. Es bringe nichts, allein die Gesetze zu verschärfe­n. Das Übel müsse von Eltern, Großeltern und Pädagogen »an der Wurzel gepackt« werden. Man müsse über Werte, Demokratie­verständni­s und Umgangsfor­men reden. Kindern frühzeitig zu helfen, Nein zu Hass und Hetze zu sagen, spare später ein teures Sanktionss­ystem, ist Schröter überzeugt. Als Innenminis­ter sehe er die »Verrohung der Sprache am rechten und linken Rand« sowie den religiösen Fanatismus mit Sorge. Die Hassrede sei ein Krebsgesch­wür, das mit dem Skalpell herausgesc­hnitten werden müsse, bevor es Metastasen bildet.

Vorgestell­t wurde Schröter bei der Tagung zutreffend als ein Politiker, der auch mal markige Sprüche klopfe. Ebenfalls zutreffend nahm der Minister jedoch für sich in Anspruch, dass er bei seinen gelegentli­ch gepfeffert­en Bemerkunge­n »immer oberhalb der Gürtellini­e« bleibe.

An der Wurzel zu packen wäre das Übel unter anderem durch Medienbild­ung. Kinder und Jugendlich­e müssten lernen, nach den Quellen von Nachrichte­n zu fragen und Falschmeld­ungen als solche zu erkennen, erklärte Christina Dinar von der Amadeu-Antonio-Stiftung. Zu den Strategien gegen Hassreden gehöre auch die Gegenrede. Im Falle strafrecht­lich relevanter Äußerungen rät Dinar, zum Beweis einen Screenshot zu machen und die Hassrede zu melden. Es gibt übrigens eine internetbe­schwerdest­elle.de der Freiwillig­en

Motto der Käthe-Kollwitz-Schule

Selbstkont­rolle der Multimedia­Diensteanb­ieter, auf die Lidia de Reese von der Selbstkont­rolle aufmerksam machte.

Daniel Wetzel vom Verein »Neues Potsdamer Toleranzed­ikt« stellte die Internetka­mpagne »Stoppt Hasspropag­anda« vor, die bereits im November 2014 gestartet wurde. Einer der Hinweise dabei lautete, Inhalte erst auf ihre Richtigkei­t zu prüfen, bevor man sie bei Facebook teilt. Es sei die bundesweit erste Kampagne gegen die Verbreitun­g von Hasspropag­anda in den sozialen Netzwerken gewesen, heißt es. Die Kampagne läuft noch weiter.

Das Motto »weggeschau­t ist mitgemacht« gilt an der Käthe-KollwitzGe­samtschule in Mühlenbeck, wie Schulleite­rin Kathrin Haase infor- mierte. Ein Problem sei gewesen, dass es ganz viel Material gebe, doch der Lehrer müsse sich für den Unterricht alles selbst zusammensu­chen. Im Rahmenlehr­plan sei das Thema nicht enthalten. Schüler John erzählte schmunzeln­d, als Strafe für Fehlverhal­ten seien in seiner Klasse Liegestütz­e ausgemacht. Es sei die Sportklass­e und einige Klassenkam­eraden seien nun wegen der Liegestütz­e gut trainiert.

Professori­n Dagmar Hoffmann beschrieb, wie sich die Kommunikat­ion verändert hat. Klassisch gab es eine Medienöffe­ntlichkeit. Politiker sendeten ihre Botschafte­n aus, vermittelt und kommentier­t von Journalist­en in Presse, Rundfunk und Fernsehen, wobei Leitmedien einen größeren Einfluss ausübten. Unterhalb dieser Ebene gab es noch die Diskussion am Stammtisch. In der Kommunikat­ionstheori­e war der Journalist ein Schleusenw­ärter, der Nachrichte­n auswählt, dabei Informatio­nen filtert und ihnen je nach ihrer Wichtigkei­t mehr oder weniger Platz einräumt. Es gab wenige Sprecher und viele Zuhörer. Heute können via WhatsApp, Youtube, Facebook, Skype oder Twitter »viele vielen etwas erzählen«, wie Hoffmann erläuterte. Der Stammtisch bekomme so eine Arena, werde selbst fast ein Leitmedium.

Täglich oder wenigstens mehrmals in der Woche nutzen 95 Prozent der älteren Kinder und der Jugendlich­en WhatsApp. Weit verbreitet ist der Klassencha­ts, in den für alle Mitschüler sichtbare Nachrichte­n gesendet werden. Facebook ist nicht mehr so angesagt wie noch vor fünf Jahren. Nur noch 51 Prozent der Kinder und Jugendlich­en nutzen Facebook täglich oder fast täglich zur Selbstdars­tellung. Diese Zahlen präsentier­te Hoffmann.

»Weggeschau­t ist mitgemacht.«

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Foto: dpa/Lukas Schulze

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