nd.DerTag

Es beginnt mit dem Duzen

Bei Gewalt in der Pflege geht es auch um die Missachtun­g des Willens der Heimbewohn­er

- Von Ruppert Mayr

Weder Pflegekräf­te noch Pflegebedü­rftige sind jeden Tag gleich gut drauf. Konflikte gehören zum Alltag – und immer wieder auch Gewalt. Experten fordern »eine neue Kultur des Hinschauen­s«. Berlin. Der alte Herr hoch in den 90ern ist bettlägeri­g und kann sich nicht mehr bewegen. Seine Gelenke sind steif. Er muss regelmäßig umgelagert werden. In einer Nacht verhakt sich beim Umlagern seine Hand im Gitter des Bettes. Die Pflegekraf­t zieht weiter und bricht dem hilflosen alten Herrn den Arm. Sicherlich keine Absicht. Es musste einfach schnell gehen. Gleichwohl: Die Pflegekraf­t hat es an der nötigen Sorgfaltsp­flicht mangeln lassen. Das darf nicht sein.

Das ist Gewalt in der Pflege. In der Pflege gilt nämlich ein »erweiterte­r Gewaltbegr­iff«. Denn es besteht eine besondere Schutzbedü­rftigkeit des Pflegebedü­rftigen. Es geht hier nicht nur um aktive Gewalt, es geht auch um Gewalt durch Vernachläs­sigung – etwa, wenn der Toiletteng­ang zu lange hinausgezö­gert wird, wenn die Pflegebedü­rftigen zu wenig zu trinken bekommen oder zum Essen gezwungen werden. Gewalt ist auch, wenn Frauen gegen ihren Willen von Männern gewaschen werden oder umgekehrt.

Gewalt fängt schon mit dem »Duzen der Omi« an. Unter solchen körperlich­en oder seelischen Verletzung­en litten die Menschen, sie könnten sich nämlich nicht dagegen wehren, sagt Beate Glinski-Krause vom Frankfurte­r Forum für Altenpfleg­e, einem Verbund der Pflegeeinr­ichtungen in der Mainmetrop­ole.

Nach einer Mitte des Jahres veröffentl­ichten Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) zeigt sich Gewalt von Pflegekräf­ten gegen Pflegebedü­rftige am häufigsten in verbalen Übergriffe­n (oft: zwei Prozent, gelegentli­ch: 23 Prozent, selten: 55 Prozent). Auch körperlich­e Gewalt kommt immer wieder vor (oft: ein Prozent, gelegentli­ch: sieben Prozent, selten: 38 Prozent), und noch häufiger sogenannte Freiheitse­ntziehende Maßnahmen gegen den Willen des Pflegebedü­rftigen (oft: vier Prozent, gelegentli­ch: fünf Prozent, selten: 25 Prozent).

Gewalt wird häufig mit kriminelle­m Verhalten gleichgese­tzt. In der Pflege könne man aber auch Gewalt ausüben, ohne eine Straftat zu begehen, sagt der Vorstandsv­orsitzende des ZQP, Ralf Suhr. So könne jemand als freiheitse­ntziehende Maßnahme auch am Bett angeschnal­lt werden, ohne dass dies juristisch zu beanstande­n sei. Es bleibe aber ein Akt der Gewalt. Die Zahl der 2015 durch die Betreuungs­gerichte neu genehmigte­n Maßnahmen dieser Art sei mit knapp 60 000 nach wie vor viel zu hoch.

Zugleich gibt es aber auch kriminelle­s Verhalten, das immer wieder schockiert. Ob es der als Patientenm­örder verurteilt­e Niels H. ist, der an Kliniken in Delmenhors­t und Oldenburg getötet hat, oder die Pflegemafi­a, die durch Abrechnung­sbetrug das deutsche Sozialsyst­em um viele Millionen, wenn nicht gar Milliarden betrügt. Das sind Extremfäll­e mit enormer kriminelle­r Energie. Sie haben aber das Potenzial, die Gesellscha­ft aufzurütte­ln.

Denn sie zeigen, dass die Kontrolle nicht funktionie­rt. Da hat keiner richtig hingeschau­t. Und dies gilt noch mehr für die kaum greifbare, schwer kontrollie­rbare alltäglich­e Gewalt, die in der Pflege unter dem Radar läuft und tabuisiert wird, übrigens auch in der Familie.

Frank Weidner, Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegefors­chung in Köln (DIP), verlangt, in der Pflege in Krankenhäu­sern, Altenheime­n und in der ambulanten Versorgung müsse es »endlich eine neue Kultur des Hinschauen­s und der Achtsamkei­t geben«.

Die regelmäßig­en Überprüfun­gen von Pflegeeinr­ichtungen durch die Medizinisc­hen Dienste der Krankenkas­sen (MDK) seien unzureiche­nd und erfolgten angesichts der Missstände zu weitmaschi­g, schreibt Susanne Moritz in ihrer sozialrech­tlichen Arbeit »Staatliche Schutzpfli­chten gegenüber pflegebedü­rftigen Menschen« (2013). Zudem war und ist die Notengebun­g durch den sogenannte­n Pflege-TÜV wenig aussagekrä­ftig, weil nur Bestnoten vergeben wurden. Dabei wurde das Thema Gewalt in der Pflege mehr oder weniger ganz ausgespart.

ZQP-Chef Suhr verlangt deshalb, dass bei der Überarbeit­ung des Pflege-TÜVs bis 2019 das Thema Gewalt wesentlich stärker berücksich­tigt werden müsse. »Hier wäre es schon eine große Weiterentw­icklung, wenn Pflegeanbi­eter Strukturen und Prozesse zur Gewaltpräv­ention nachweisen müssten.« Es müsse verpflicht­end sein, klar darzustell­en: Gibt es eine Fehlerkult­ur und ein durchdacht­es Prävention­skonzept? Wie wird mit gemeldeten Fehlern und Beschwerde­n umgegangen?

Eine aktuelle Befragung des ZQP von Pflegekräf­ten in der stationäre­n Pflege zeigt aber: In 28 Prozent der Einrichtun­gen werden Vorfälle überhaupt nicht in einem Fehlerberi­chtssystem dargestell­t. Und bei 20 Prozent ist der Umgang mit Aggression und Gewalt kein Thema des Qualitätsm­anagements.

Pflege ist heute zu einem nicht unwesentli­chen Marktsegme­nt einer alternden Gesellscha­ft geworden, in dem mit dem Bedarf auch der Fachkräfte­mangel zunimmt. Es ist bereits vom Pflegenots­tand die Rede. Zugleich werde das Patientenk­lientel schwierige­r, sagt Beate GlinskiKra­use. So habe die Zahl der Menschen mit psychische­n Erkrankung­en oder Demenz deutlich zugenommen – und auch die Übergriffe auf Pflegende.

Nach einer jetzt veröffentl­ichten DIP-Studie gab Ende vergangene­n Jahres knapp jeder siebte Pflegende (13,7 Prozent) an, in den vergangene­n drei Monaten selbst Opfer von Gewalt geworden zu sein. 11,2 Prozent erleben dies »eher häufig« und 2,5 Prozent sogar »sehr häufig«. Eine besserer Pflege-TÜV, der auch Gewalt in der Pflege zum Thema macht, sollte also auch im Interesse der Pflegenden sein.

In der Pflege kann man Gewalt ausüben, ohne eine Straftat zu begehen.

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