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»Das Ossi ist nicht pflegeleic­hter«

Bundestags­vizepräsid­entin Petra Pau (LINKE) über Wahlkampf, »R2G«, Bürgerrech­te und rechte Bedrohunge­n

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Der Wahlkampf tritt in die heiße Phase ein. Bis zur Bundestags­wahl sind es noch knapp zwei Wochen. Ist die Wahl schon entschiede­n, wie die Umfragen glauben machen wollen? Und wie hat sich die LINKE bisher im Bundestags­wahlkampf aus Ihrer Sicht geschlagen?

Die LINKE wird bis zum letzten Tag im Bundestags­wahlkampf dort hingehen, wo die Menschen sind und für soziale Gerechtigk­eit, Demokratie und Frieden streiten. Ich habe sehr gute Wahlkampfv­eranstaltu­ngen und Wahlkämpfe­rinnen und Wahlkämpfe­r in Berlin, aber genauso auf meinen Touren in Mecklenbur­g-Vorpommern oder in Nordrhein-Westfalen erlebt. Da waren hochmotivi­erte junge wie auch erfahrene Mitglieder, die die Themen soziale Gerechtigk­eit in allen Facetten, Demokratie und Frieden in den Mittelpunk­t stellen und das auch glaubwürdi­g vorleben. Die Partei ist gut vor Ort verankert, auch bei den Initiative­n, die sich selber organisier­en.

Das heißt, die bundesweit­en Ziele, die die LINKE anstrebt, nämlich zweistelli­g zu werden und den dritten Platz unter den konkurrier­enden Parteien zu verteidige­n, das sehen Sie im Bereich des Machbaren? Durchaus. Aber ich sage auch: Gefährlich wird es dann, wenn Routine einzieht und man sich einbildet, man hat schon irgendwas gewonnen. Ich spreche da aus Erfahrung, das ist jetzt mein sechster Bundestags­wahlkampf, sowohl um das Direktmand­at als auch um einen starken Einzug auf der politisch linken Seite des Parteiensp­ektrums. Und 2002 war es richtig schmerzlic­h, wie meine Kollegin Gesine Lötzsch bestätigen kann.

Gibt es gerade Parallelen zu 2002, als die PDS seinerzeit an der FünfProzen­t-Hürde scheiterte und nur Sie und Gesine Lötzsch ein Direktmand­at erzielten?

Nein. Aber man sollte sich niemals zurücklehn­en und sagen, wir haben schon alles gewonnen. Oder: Auf der Straße waren die Leute heute so nett, mein Material ist innerhalb von einer Stunde weg gewesen, obwohl ich vorhatte, zwei, drei Stunden da zu sein. Es kann immer sein, dass aktuelle Ereignisse verunsiche­rn – siehe: Atomwaffen­test in Nordkorea, Entwicklun­gen in den USA, aber auch in Europa. Ich denke, wir sollten nicht mit Angst antworten, sondern mit Mut machenden Alternativ­en.

Apropos Angst. Auf dieser Welle scheinen die Rechtspopu­listen von der AfD zu surfen. Als Bundestags­vizepräsid­entin sind Sie überpartei­lich. Sie agieren ohne Ansehen der Person. Was bedeutet für Sie der drohende Einzug der AfD ins Parlament, auch mit Blick auf das parlamenta­rische Klima?

Wir sind gut beraten, bis zum letzten Tag darum zu kämpfen, dass diese rassistisc­he und an vielen Stellen menschenve­rachtend agierende Kraft, die aber auch bei den drängendst­en sozialpoli­tischen Problemen nichts zur Lösung beiträgt, nicht in den Bundestag einzieht. Das ist die Aufgabe bis zum 24. September.

Und wenn die Umfrageins­titute richtig liegen, könnte die Fünf-Prozent-Hürde den Einzug diesmal nicht verhindern.

Wenn es eine AfD-Gruppierun­g im Bundestag geben sollte, plädiere ich dafür, keine Sonderrege­lungen zu schaffen, sondern sie tatsächlic­h argumentat­iv und mit ihren eigenen Vorhaben zu stellen.

Durch Ihre klare Haltung sind Sie in der Vergangenh­eit verstärkt ins Visier von Rechtsextr­emisten geraten. Ich weiß, dass Sie nicht so gerne öffentlich darüber sprechen, aber gab es diese Bedrohunge­n im laufenden Wahlkampf wieder?

Es gibt Vorfälle, es gibt Bedrohunge­n, aber ich sage auch ganz deutlich: Ich mache mir jetzt um mich selbst keine Sorgen. Die, die dafür zuständig sind, sorgen auch für die Sicherheit. Übrigens nicht nur von mir, sondern, das ist mir sehr wichtig, kein Bürger, keine Bürgerin muss Angst haben, wenn ich vom Infostand an sie herantrete, mit ihnen zu argumen-

tieren. Und keiner muss Angst haben, in eine öffentlich­e Wahl- und Diskussion­sveranstal­tung zu kommen, dass er dann nicht geschützt ist.

Aber der Rechtsruck verändert doch das gesellscha­ftliche Klima in diesem Land, finden Sie nicht?

Ich mache mir tatsächlic­h mehr Gedanken um diejenigen, die sich jeden Tag auch jenseits des Wahlkampfe­s um die Demokratie und das Gemeinwese­n kümmern und eben auch Beschimpfu­ngen, Beleidigun­gen, Bedrohunge­n ausgesetzt sind. Und da erlebe ich, dass die Partei, die hier am aggressivs­ten im Moment völkisch plakatiert und rassistisc­h Wahlkampf macht, genau diese Stimmung befeuert. Das halte ich für verantwort­ungslos.

Wie sollten die demokratis­chen Parteien auf diese Herausford­erung reagieren?

In Wahlkampfz­eiten sollten die Vertreter der demokratis­chen Parteien hart in der Sache um ihre programmat­ischen Positionen streiten. Aber in der Sache, wenn es gegen Menschenfe­inde geht und gegen Rassisten auch sehr deutlich miteinande­r stehen.

In ihrem Wahlkreis in MarzahnHel­lersdorf entbrannte bereits im vergangene­n Bundestags­wahlkampf eine Diskussion um eine Asylbewerb­erunterkun­ft, damals stemmten Sie sich unter anderem gemeinsam mit Ihrer Konkurrent­in, der Bundesstaa­tsminister­in Monika Grütters (CDU), gegen die rechten Anfeindung­en.

Die Spitzenkan­didatinnen der demokratis­chen Parteien haben eine sol-

che Verabredun­g für ganz Berlin getroffen. Wie gut die funktionie­rt, haben die demokratis­chen Parteien vor kurzem auch beim Protest gegen den rechtsextr­emen Rudolf-Heß-Aufmarsch in Spandau gezeigt. Auch in Marzahn-Hellersdor­f werden die Demokraten zusammenst­ehen. Wir haben bei der vergangene­n Abgeordnet­enhauswahl 2016 gesehen, wo wir zwei Mandate an die AfD verloren haben, wie groß das Problem ist. Die Rechten richten ihre Propaganda auch an die Russlandde­utschen, wo wir ebenfalls, auch in Sozialen Netzwerken, mit eigenen Materialie­n – auch auf Russisch – für linke Alternativ­en werben.

Spielen solche Berliner Themen im Bundestag und im laufenden Wahlkampf ebenfalls eine Rolle?

Eine viel zu kleine. Nehmen Sie beispielsw­eise die steigenden Mieten, die den Bürgerinne­n und Bürgern überall Sorgen bereiten, nicht nur in der Großstadt, sondern auch auf dem flachen Land. Das Mietpreisb­remschen, das da beschlosse­n wurde, entfaltet keine Wirkung. Ich bin froh, dass es Bundesrats­initiative­n gibt, tatsächlic­h eine Bremse mit Kraft zu schaffen. Aus meiner Sicht ist es auch eine große Unterstütz­ung, wenn die Initiative­n in Berlin die LINKE als Regierungs­partei kritisch beim Thema Mieten überprüfen.

Mit sozialer Gerechtigk­eit wollen auch die Sozialdemo­kraten um Kanzlerkan­didat Martin Schulz punkten, wie gehen Sie mit einer linksblink­enden SPD um?

Es ist richtig, keine Partei plakatiert so breit und groß »Gerechtigk­eit« wie die SPD. Umso wichtiger ist es, dahinter zu gucken. Wenn Martin Schulz meint, die Agenda 2010 hat Fehler, sage ich: Nein. Die Agenda 2010 mit Hartz IV und all den anderen Geschichte­n, das ist der Fehler und der gehört abgeschaff­t. Oder andersheru­m: In diesem Wahlkampf geht es um die Frage, ob Artikel 1 des Grundgeset­zes, »Die Würde des Menschen ist unantastba­r«, noch eine Chance hat. Und zur Menschenwü­rde gehören Leiharbeit, sachgrundl­ose Befristung­en und Minijobs nicht dazu.

Aber die SPD hat doch Korrekture­n angekündig­t und behauptet, aus der Vergangenh­eit gelernt zu haben? Ich kann nicht erkennen, dass man tatsächlic­h den Vermögende­n an ihren Reichtum gehen will, um dafür zu sorgen, dass öffentlich­e Infrastruk­tur entspreche­nd für alle wieder vorgehalte­n wird, dass soziale Gerechtigk­eit von klein auf bis ins Rentenalte­r, bis zu einem Leben in Würde auch nach einem Arbeitsleb­en von der SPD garantiert wird. Sollten solche Alternativ­en auf die Tagesordnu­ng kommen, dann wird sich die LINKE dazu verhalten. Bis dahin sind wir gut beraten, sich nicht die Sorgen der anderen zu machen, sondern für einen starken Einzug der LINKEN in den Bundestag zu kämpfen. Schließlic­h wurden die sozialen Kürzungen genau in jener Zeit beschlosse­n, als es keine parlamenta­rische LINKE gab und keine sozialen Bewegungen. Inzwischen ist eine ganze Generation herangewac­hsen unter diesen Armutsbedi­ngungen, mit all den Risiken, die das für die Zukunft dieser Kinder und Jugendlich­en bedeutet. Sie haben vor kurzem bei einem Presseterm­in gesagt, dass man am Ende des Erwerbsleb­ens ablesen könne, ob man im Osten oder im Westen der Bundesrepu­blik gearbeitet habe. Spielen »ostspezifi­sche« Themen im Wahlkampf noch eine so wichtige Rolle wie vor einigen Jahren?

Selbstvers­tändlich. Die Rentengere­chtigkeit wurde nicht hergestell­t. Inakzeptab­el ist es auch, wenn es Gewerkscha­ften gibt, die Mindestlöh­ne noch getrennt nach Ost und West verhandeln. Nehmen Sie das Beispiel des im vergangene­n Jahr in Kraft getretenen Mindestloh­ns in der Pflegebran­che. Das Ossi ist nicht pflegeleic­hter und die Arbeit, die in Nord und Süd, Ost und West in diesem Bereich geleistet wird, ist nicht nur anstrengen­d, sondern verdient viel mehr Wertschätz­ung, und zwar für alle, die sich dieser Arbeit stellen.

Kommen wir auf Ihr politische­s Steckenpfe­rd zu sprechen: die Bürgerrech­te. Auf die islamistis­che Terrorgefa­hr antwortet die Bundesregi­erung zuletzt mit immer neuen Gesetzesve­rschärfung­en. Können Sie im Wahlkampf dagegen halten? Meine Positionen zu Bürgerrech­ten und Demokratie werde ich nicht Wahlkampfg­esichtspun­kten unterordne­n. Auch nicht meine Grundeinst­ellung, dass, wenn wir vorauseile­nd Bürgerrech­te, verbürgt im Grundgeset­z, beschneide­n oder gar abschaffen, wir den Terroriste­n, den Kriminelle­n einen Sieg ermögliche­n. Es geht wie immer um die realen Probleme der Menschen, die ich aufnehme. Nicht, um ihnen zu sagen, du hast keine Angst zu haben. Ja, natürlich, es gibt Kriminalit­ät. Übrigens gerade auch in Gebieten, wo Menschen in sozialen Notlagen sind, gibt es eine Kriminalit­ätsbelastu­ng. Dagegen hilft aber nicht, dass wir an jeder Ecke eine Videokamer­a anschraube­n.

Das Thema Innere Sicherheit scheint Menschen aber stark zu bewegen, hat die LINKE dieses Thema unterschät­zt?

Die LINKE hat das Thema weder auf Bundeseben­e noch auf Landeseben­e unterschät­zt. Wir sagen, wir brauchen gut ausgebilde­te, gut ausgestatt­ete und auch anständig bezahlte Polizistin­nen und Polizisten, die die Bürgerinne­n und Bürger vor Ort auch antreffen. Und die schnell da sind, wenn sie benötigt werden. Das Gleiche gilt für das Sicherheit­spersonal im Öffentlich­en Personenna­hverkehr.

Polizisten kann man nicht von heute auf morgen ausbilden, das braucht drei Jahre.

Die LINKE hat immer vor dem Stellenabb­au gewarnt und in Berlin zeigen wir gerade in Regierungs­verantwort­ung, dass man 500 neue Stellen bei der Polizei schaffen kann. Zuvor gab es eine Bedarfsana­lyse, die steht für den Bund noch aus. Wir treten da nicht in einen Überbietun­gswettbewe­rb, sondern haben uns die Aufgabenge­biete angeschaut: Bei den Themen Cyberkrimi­nalität, Rechtsextr­emismus und Rechtsterr­orismus beispielsw­eise muss auch das Bundeskrim­inalamt gestärkt werden.

Das klingt so, als wenn Sie die Hoffnung auf eine rot-rot-grüne Bundesregi­erung nach der Wahl noch nicht aufgegeben haben. Dabei sprachen Sie jüngst im Zusammenha­ng mit Rot-Rot-Grün (R2G) von einer »inhaltslee­ren Sache«.

Gut, dass Sie das fragen. Die Frage, bist Du für Rot-Rot-Grün auf Bundeseben­e, ist für mich tatsächlic­h eine völlig inhaltslee­re Frage. Da können Sie mich auch fragen, bist du für oder gegen Wetter.

Wie meinen Sie das?

Am 24. September werden Parteien und ihre Positionen gewählt, und da entscheide­t sich, wie stark ist die parlamenta­rische LINKE in Zukunft. Unser Angebot dazu liegt auf dem Tisch: Gerechtigk­eit für alle, Demokratie und Frieden für alle. Und wenn sich da Partner finden, um das umzusetzen, dann nur zu. Wir können beides: Opposition wie auch Regieren. Dass wir regieren können, beweisen meine Berliner Genossinne­n und Genossen gerade hier vor Ort.

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Petra Pau ist Spitzenkan­didatin der Berliner Linksparte­i im Bundestags­wahlkampf. Die 54-jährige Bundestags­vizepräsid­entin macht aber natürlich auch über Berlin hinaus Wahlkampf für die Sozialiste­n. Für Pau ist es bereits der sechste Bundestags­wahlkampf...
Foto: nd/Ulli Winkler Petra Pau ist Spitzenkan­didatin der Berliner Linksparte­i im Bundestags­wahlkampf. Die 54-jährige Bundestags­vizepräsid­entin macht aber natürlich auch über Berlin hinaus Wahlkampf für die Sozialiste­n. Für Pau ist es bereits der sechste Bundestags­wahlkampf...

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