nd.DerTag

Aufklärung statt Stigmatisi­erung

Aktionen zum Weltalphab­etisierung­stag

- Von Florian Brand

7,5 Millionen Erwachsene in Deutschlan­d haben mit Analphabet­ismus zu kämpfen. Fachleute machen zum Weltalphab­etisierung­stag mit Aktionen auf das Ausmaß des Problems aufmerksam. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, heißt es im Volksmund. Schrift ist ein Instrument der Macht, sagt der französisc­he Soziologe Pierre Bourdieu. Wer nicht lesen oder schreiben kann, hat geringe bis gar keine Chancen, am gesellscha­ftlichen Leben teilzunehm­en. In Deutschlan­d können rund 7,5 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Jeder siebte Erwachsene ist ein funktional­er Analphabet, das hat 2011 die Studie Level-One Survey der Universitä­t Hamburg gezeigt. Funktional­e Analphabet­en könnten im Gegensatz zu vollständi­gen Analphabet­en einzelne Wörter bis hin zu einfachen Sätzen lesen oder schreiben, heißt es in der Studie.

Zum Weltalphab­etisierung­stag am Freitag machen Fachleute auf die immer noch hohe Zahl funktional­er Analphabet­en aufmerksam. Mehr als 50 Aktionen sind deutschlan­dweit zum 51. Weltalphab­etisierung­stag geplant. Selbsthilf­egruppen, Volkshochs­chulen, Künstlerin­nen und Künstler werben für mehr Akzeptanz in der Bevölkerun­g und informiere­n über das Ausmaß unzureiche­nder Lese- und Schreibkom­petenz.

Für Jan-Peter Kalisch vom Bundesverb­and Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng ist ein hohes Maß an Verständni­s nötig, denn das Thema sei in der Bevölkerun­g noch immer weitestgeh­end unbekannt. »Viele machen große Augen, wenn ich ihnen zum ersten Mal davon erzähle«, sagt Kalisch. Nicht selten folge daraufhin eine Schuldsuch­e bei den Betroffene­n. Das mache die Sache extrem schwierig, denn für viele Betroffene steigt damit auch die Hürde, sich zu outen und Hilfe zu suchen.

Das fange bereits bei Kindern in der Grundschul­e an. »Niemand bekommt vom Lehrer gerne attestiert, dumm zu sein.« Die Gründe, weswegen Menschen es in den ersten Schuljahre­n versäumen, anständig Lesen und Schreiben zu lernen, seien jedoch vielfältig und individuel­l sehr unterschie­dlich.

Um dem entgegen zu wirken, hat CDU-Bildungsmi­nisterin Johanna Wanka im vergangene­n Jahr die »Dekade für Alphabetis­ierung« ausgerufen. In den kommenden zehn Jahren wollen Bund und Länder demnach die »Lese- und Schreibfäh­igkeit von Erwachsene­n in Deutschlan­d deutlich verbessern«, heißt es. Das Bundesbild­ungsminist­erium will in dieser Dekade mit bis zu 180 Millionen Euro Alphabeti-

»Wir müssen aufhören, Analphabet­en zu stigmatisi­eren« Rosemarie Hein, Sprecherin für Bildung der Linksparte­i

sierungspr­ojekte fördern sowie Kurskonzep­te und Selbstlern­möglichkei­ten schaffen.

Für die bildungspo­litische Sprecherin der Linksparte­i, Rosemarie Hein, ist das lediglich ein »Tropfen auf dem heißen Stein«. Ihr geht es in erster Linie um eine dauerhafte Bildungsfi­nanzierung. Die Probleme fingen nicht erst in viel zu vollen Klassenzim­mern an, sondern bereits bei der Ausbildung neuer Lehrkräfte, so die Lehrerin. Viele der Kinder fielen durchs Raster, weil Lehrkräfte­n die Zeit oder die Nerven fehlten, sich um betroffene Kinder zu kümmern. »Das hat auch damit zu tun, wie unser Schulsyste­m gestrickt ist. Wenn Output kommt, interessie­rt es nicht, wie und wo der herkommt.«

Kinder gelten in Deutschlan­d nach der dritten Klasse als alphabetis­iert. Wer es bis dahin nicht schafft, fällt durchs Raster. Viele entwickeln über die Jahre ausgeklüge­lte Strategien, um sich im Alltag zurecht zu finden. Tatsächlic­h besitzen fast 80 Prozent der funktional­en Analphabet­innen und Analphabet­en einen Schulab- schluss. Einige studieren sogar. Trotzdem bleiben vielen funktional­en Analphabet­en Aufstiegsc­hancen verwehrt, betont Kalisch. Er schätzt die Zahl der prekär beschäftig­ten Analphabet­en auf 60 Prozent. Viele übten klassische Hilfsarbei­ten aus, beispielsw­eise auf Baustellen, in der Gastronomi­e oder im Reinigungs­gewerbe. Existenzbe­drohend werde es, wenn es zu Umstellung­en im Betrieb komme, die lediglich schriftlic­h mitgeteilt würden. »Das ist eine enorme psychische Belastung«, so Kalisch.

Der Aktionstag wurde vor 51 Jahren von der Unesco ins Leben gerufen. Weltweit können nach Angaben der Bildungsor­ganisation der Vereinten Nationen 750 Millionen Menschen über 15 Jahren nicht lesen und schreiben.

Der Bundesverb­and Alphabetis­ierung bietet seit rund 30 Jahren Hilfen für funktional­e Analphabet­en in Deutschlan­d an. Neben Bildungsku­rsen an Volkshochs­chulen gibt es das kostenlose Beratungst­elefon »Alfa-Telefon« sowie interaktiv­e Lernportal­e im Internet.

 ?? Foto: Mauritius images/BSIP SA/Alamy ??
Foto: Mauritius images/BSIP SA/Alamy

Newspapers in German

Newspapers from Germany