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Europa probt den Cyberkrieg

Gegen Russen, Migration und Globalisie­rungsgegne­r: Am Szenario einer Übung von EU und NATO gibt es Kritik

- Von Moritz Wichmann, Tallinn

Erst 2016 hat sich die EU eine Strategie gegen Internetan­griffe gegeben. Die wird nun im Bunde mit der NATO geübt. Mancher empfindet freilich die dabei aufgebaute­n Feindbilde­r als eigentlich­e Gefahr.

Wirklich bereit sei man wohl nie, sagt Estlands Verteidigu­ngsministe­r Juri Luik. Deswegen gehe es den Esten, die sich als »digitale Nation« bezeichnen, nun darum, dass Europa immerhin besser werde im Umgang mit Cyberangri­ffen. Luik ist als Gastgeber an diesem Tag der Erste, der den blauen Teppich vor dem »Kultuurika­tel« betritt. In dem Veranstalt­ungszentru­m in Tallinn treffen sich am Donnerstag die EU-Verteidigu­ngsministe­r mit Vertretern der NATO, um mit CYBRID 2017 die erste EU-Cyberübung abzuhalten, bei der es auch um hybride Bedrohunge­n durch nicht-staatliche Akteure geht.

Wenig später verliert ein Militär auf dem Weg in das Veranstalt­ungszentru­m einen Ordner mit Dokumenten. Er klaubt das Papier zusammen und marschiert an den Fotografen vorbei in die renovierte ehemalige Fabrikhall­e. Die Szene ist vielleicht symptomati­sch für die EU-Cyberstrat­egie: Man muss sich noch sortieren und ganz einig ist man sich nicht.

Wurde bei der NATO-Operation »Locked Shields« im April noch ein Cyberangri­ff auf einen Militärflu­ghafen simuliert, sind nun »multiple« Angriffe auf ein militärisc­hes Hauptquart­ier das Szenario. In anderthalb Stunden Simulation müssen die Verteidigu­ngsministe­r auf Informatio­nen reagieren und dabei per Knopfdruck Entscheidu­ngen treffen.

Im Planungsdo­kument der Europäisch­en Kommission von Mitte Juli, das die britische NGO Statewatch veröffentl­icht hatte, steht: Die Übung solle einem »realistisc­hen Szenario« folgen. Dazu wird eine geopolitis­che »Storyline« vorgegeben. In dieser gibt es fünf mögliche Bedrohunge­n. Eine ist der »quasi-demokratis­che« Staat FROTERRE, der zusammen mit nationalis­tischen Hackern gegen EUStaaten vorgeht. Eine weitere Bedrohung ist der NEWBORN EXTREMIST STATE, eine islamische Sekte, die ein Kalifat errichten will.

Ein schneller Informatio­nsaustausc­h und gleiche Abläufe seien der »Schlüssel« bei solchen Angriffen, doziert ein Sprecher des estnischen Verteidigu­ngsministe­riums. Man wolle zunächst die Verteidigu­ngsministe­r sensibilis­ieren und zwischen NATO und EU die Zusammenar­beit verbessern.

Im Grundsatz verfügt auch die EU über eine Struktur, Cyberattac­ken geheimdien­stlich und militärisc­h abzuwehren. In Zukunft soll in einem »Situation Room« im der Außenbeauf­tragten Federica Mogherini unterstell­ten European External Action Service rund um die Uhr die Lage im Cyberraum beobachtet werden, um schnell reagieren zu können. Im Krisenfall soll dann die Abteilung für strategisc­he Kommunikat­ion die Öffentlich­keit informiere­n. Die Cyberstrat­egie der EU ist aber noch jung: Erst im Juli 2016 wurde dazu eine Richtlinie in Form eines »Playbooks« beschlosse­n, nun wird geübt.

Wie Litauen und Lettland dringt das gleichfall­s lange sowjetisch kontrollie­rte Estland auf eine starke NATO-Präsenz und ein schärferes Vorgehen gegen – vermutete oder reale – russische Einflussna­hme. Am Donnerstag denken estnische Vertre- ter denn auch laut über Vergeltung für Cyberangri­ffe nach. Grundlage ist das »Tallinn Manual«, das Staaten, virtuell schwer angegriffe­n werden, das Recht auf Verteidigu­ng zuspricht. Hier gebe es aber Meinungsve­rschiedenh­eiten in der EU.

Aber auch die Migration über das Mittelmeer ist Teil des Bedrohungs­szenarios, als »Operation AIFOS«. Im Szenario geht diese EU-Mission gegen »Menschensc­hmuggel« im südlichen Mittelmeer vor, mit Hauptquart­ier in Rom. Rückwärts gelesen heißt AIFOS nichts anderes als SOFIA – die reale Mission wird tatsächlic­h in Italiens Hauptstadt gesteuert.

Noch heikler: Offenbar zielt die Übung auch auf Gesellscha­ftskritike­r. Auf Nachfrage seitens »nd« wiegelt NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g zwar zunächst ab: Man habe keine spezifisch­en Gruppen als Bedrohung identifizi­ert und wolle sich nur auch gegen Attacken solcher nicht-staatliche­r Akteure verteidige­n können. Im Planungsdo­kument liest sich das anders: Das Bedrohungs­szenario »Anti-Globalisat­ion Group« beschreibt eine internatio­nale Bewegung, die über soziale Medien »Ausschreit­ungen« organisier­t – als »Demonstrat­ionen getarnt«.

»Alarmieren­d« seien diese gegen Russland und linke Globalisie­rungskriti­k gerichtete­n Cyberkrieg­sszenarien, so der Linksparte­i-Abgeordnet­e Andrej Hunko. Berlin dürfe sich nicht am »digitalen Feldzug gegen linke Politik« und Seenotrett­er beteiligen. Hunko plädiert auch gegenüber Russland für Entspannun­g.

CYBRID ist der Auftakt für eine weitere Übung mit den Namen EU PACE 17, die von Ende September bis Ende Oktober in Tallinn stattfinde­n soll. In dem Szenario, das dann geübt werden soll, gibt es Cyberangri­ffe gegen »mehrere EU-Staaten« mit »unterschie­dlicher Natur und Intensität« sowie den Einsatz von »erhöhtem und gesteuerte­m Falschmeld­ungsaufkom­men«, also eine längere Kampagne, wie sie etwa vor den Wahlen in Frankreich mit Meldungen über eine angebliche Homosexual­ität des liberalen Politikers Emmanuel Macron und den »Macron Leaks« versucht wurde.

Man wolle die EU als »vollwertig­en Partner«, erklärte Stoltenber­g vor Beginn der Übung. Doch anders als bei anderen Militärman­övern, wo Vertreter anderer Staaten in beobachten­der Rolle teilnehmen können, sind diese nicht eingeladen. Der zweite Teil von EU PACE ist sogar geheim, alle teilnehmen­den Staaten müssen »abhörsiche­re Räumlichke­iten« nutzen. Im Oktober folgt dann die nächste NATO-Cyberübung. Und auch die EU will den »Computerka­mpf« nächstes Jahr wieder mit einer weiteren Übung trainieren.

EU und NATO üben auch das geheimdien­stlich-militärisc­he Vorgehen gegen eine globalisie­rungskriti­sche Bewegung, die im Netz »Ausschreit­ungen, getarnt als Demonstrat­ionen« organisier­t.

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Foto: Reuters/Ints Kalnins Sieht nicht so aus, ist aber ein Militärman­över: NATO-Cybersolda­ten im April in Tallinn. Nun zieht die EU nach

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