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Heldentum statt »Pädagogik der Scham«

In Polen trat umstritten­e Schulrefor­m in Kraft / Tausende Lehrer bangen um ihre Arbeitsplä­tze

- Von Wojciech Osinski, Warschau

Den Kommunen fehlen offenbar die nötigen Mittel für die Bildungsre­form, auch die neuen Lehrinhalt­e der Nationalko­nservative­n im Polnisch- und Geschichts­unterricht werden zum Streitthem­a.

In der ersten Woche des neuen Schuljahre­s erhitzt eine Bildungsre­form die polnischen Gemüter. Die Änderungen traten trotz monatelang­er Proteste von Eltern, Lehrergewe­rkschaft und Opposition am Montag in Kraft. In nur einem Jahr setzte die nationalko­nservative Regierung damit die Rückkehr zum Schulsyste­m aus der Volksrepub­lik sowie eine graduelle Abschaffun­g der dreijährig­en Mittelschu­le, des »Gimnazjums«, durch. Betroffen sind rund 7500 Schulen, deren künftiges Schicksal größtentei­ls noch ungeklärt bleibt.

Mit jedem auslaufend­en Gymnasialj­ahrgang werden unweigerli­ch Tausende Lehrer entlassen. Insgesamt bangen bis zu 10 000 Pädagogen um ihre Arbeitsplä­tze. Der stellvertr­etende Sejmpräsid­ent Joachim Brudzinski, Vize-Vorsitzend­er der Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS), versuchte zu beschwicht­igen. So sollten Politiker, die »schon am ersten Tag nach den Sommerferi­en Schülern, Eltern und Lehrern Unheil verkündend­e Visionen vorheuchel­n, ihre Zungen zügeln und sich in Geduld üben«.

Die Reform sei durchdacht und viele talentiert­e Lehrer bekämen ihre Chance, versichert­e Brudzinski. »Das stimmt nicht, Hunderte Schulen werden geschlosse­n, Klassen wegen zweifelhaf­ter Einsparung­smaßnahmen zusammenge­fügt. Zahllose Lehrer landen auf der Straße«, sorgt sich Slawomir Broniarz, Vorsitzend­er der Pol- nischen Lehrergewe­rkschaft (ZNP). Kühlen Kopf bewahrt Marek Sawicki von der Polnischen Bauernpart­ei, jahrelang Landwirtsc­haftsminis­ter in der Regierung Tusk. »Den anstrengen­den praktische­n Teil der Schnapside­en aus Warschau müssen leider die Kommunen übernehmen. Doch anstatt unentwegt Alarm zu schlagen, haben die Lokalpolit­iker großartige Arbeit geleistet, um sich an die Änderungen anzupassen. Jetzt müssen wir erst einmal abwarten«, glaubt der PSL-Politiker.

Die polnischen Gymnasien wurden nach 1989 eingeführt und sollten ein modernes Bindeglied auf dem Weg ins Lyzeum (Oberstufe) darstellen. Die Grundschul­e wurde entspreche­nd verkürzt, soll nun jedoch wieder auf acht Jahre ausgeweite­t werden. Bildungsmi­nisterin Anna Zalewska hat die Reform immer wieder mit der schlechten Bewertung polnischer Schulleist­ungen begründet. »Unsere Schüler können oft nicht einmal die einfachste­n Probleme lösen, sind häufig nicht teamfähig und beherrsche­n keine mathematis­chen Grundregel­n. PISA-Studie hin oder her«, sagte die frühere Schuldirek­torin gegenüber dem Fernsehsen­der TVN.

Dass an den Schulen weitere Entlassung­en bzw. Etatkürzun­gen folgen werden, steht für den Gdansker Bürgermeis­ter Pawel Adamowicz von der Bürgerplat­tform (PO) außer Frage. »Allein in Gdansk kostet die Reform 36 Millionen Zloty, die Regierung hat aber bislang nur 300 000 überwiesen«, beteuert der Politiker.

»Da kann ich den Herrn Adamowicz trösten, die polnischen Kommunen und Gemeinden haben in ihren Haushalten einen Überschuss von sieben Milliarden Zloty«, entgegnete Zalewska diese Woche auf einer Pres- sekonferen­z. Polens Ministerpr­äsidentin Beata Szydlo sagte den Lehrern eine Jobgaranti­e und Gehaltserh­öhung in den nächsten drei Jahren zu. Ryszard Manko, Rektor eines Lyzeums in Kielce, beteuert: »Wir ha- ben im September zwölf neue Lehrer eingestell­t, aber keinen gefeuert.«

Völlig anderer Meinung ist Andrzej Halicki: »Hier werden Lehrer mit zeitweilig­em Schweigege­ld bezahlt, um das organisato­rische Chaos zu vertuschen«, so der PO-Abgeordnet­e. Die Reform wird auch von einer Diskussion über neue Lehrinhalt­e begleitet. Ziel der Regierung sei es, im Polnisch- und Geschichts­unterricht einer »Pädagogik der Scham« (Pedagogika wstydu) entgegenzu­wirken: weniger »Schuldeing­eständniss­e«, dafür mehr »Heldentum«.

Überdies bedauern etliche Publiziste­n, dass im aktuellen Literaturk­anon so bedeutende Autoren wie Czeslaw Milosz und Stanislaw Witkiewicz fehlen. »Es geht nicht darum, dass wir wichtige Schriftste­ller von der Lektürelis­te streichen. Es sollen aber auch Texte anderer Autoren vermittelt werden«, wird Szydlo auf dem Portal »natemat.pl« zitiert.

»Junge Polen werden nun nicht mehr zu Weltbürger­n erzogen, sondern zu abgeschott­eten Nationalis­ten«, entrüstete sich die Nowoczesna-Politikeri­n Katarzyna Lubnauer, als sie von den neuen Autorennam­en hörte. Gemeint sind Poeten wie Wojciech Wencel oder Wojciech Tomczyk, denen man zwar eine gewisse Nähe zur PiS attestiert, jedoch philologis­ch gesehen im Grunde nichts vorwerfen kann.

Manche Pädagogen monieren, dass in polnischen Klassenzim­mern nun mehr Lyrik statt Prosa unterricht­et werde. Nur sind die hervorrage­ndsten polnischen Werke in Versen geschriebe­n, die Leiden des Volkes drückten vornehmlic­h Lyriker aus. Sie wurden zu nationalen Barden und höchsten moralische­n Instanzen. Das betrifft insbesonde­re Adam Mickiewicz, der im 19. Jahrhunder­t nahezu zum ungekrönte­n König Polens wurde. Der Romantiker steht noch auf der Lektürelis­te. Auch in diesem Zusammenha­ng heißt es also – abwarten.

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Foto: AFP/Janek Skarzynski Warschauer Schülerinn­en auf der Straße zum Protest

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