Links geerdet
Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Nestlé in Bayern will für die Linkspartei in den Bundestag
Susanne Ferschl hat Einfluss auf die Unternehmenspolitik, zugleich sind ihre Möglichkeiten begrenzt. Deshalb will die Gewerkschafterin aus dem Allgäu in den Bundestag – und die Rahmenbedingungen ändern.
Biessenhofen ist eine kleine Gemeinde mit 4000 Einwohnern im Ostallgäu und kann mit einem Hirtenmuseum, einem familienfreundlichen Radweg und dem Nestlé-Werk aufwarten. Dort arbeiten rund 850 Mitarbeiter und produzieren Babynahrung, die in alle Welt exportiert wird. Die Webseite des international tätigen Schweizer Konzerns informiert, dass in Biessenhofen ausgebildet wird, zum Beispiel zum »Chemielaboranten (m/w)«. Genau diese Ausbildung hat Susanne Ferschl dort vor 25 Jahren begonnen. Heute sitzt sie für die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat des Unternehmens. Noch. Denn wenn alles gut geht, dann wird die 44-Jährige bei der anstehenden Wahl Ende September für die bayerische Linkspartei in den Bundestag einziehen. »Ich möchte die Auswirkungen der Agenda-Politik der SPD unter Schröder rückgängig machen«, bringt die Gewerkschafterin ihr politisches Programm auf eine kurze Formel.
Kaufbeuren, Ortsteil Neugablonz. Hier siedelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände einer Sprengstofffabrik viele Vertriebene aus Schlesien an, sie brachten ihre Erfahrung aus der Schmuck- und Glasindustrie mit und bauten diese wieder auf. Seit vier Jahren bewohnt Susanne Ferschl in diesem Stadtteil mit ihrem Mann ein Reihenhaus, sie selbst stammt aus Marktoberdorf, nur ein paar Kilometer entfernt. Der Vater arbeitete als Beamter bei der AOK, das Elternhaus war »politisch eher konservativ«, erinnert sich die LINKEKandidatin.
Sie selbst ist vor allem durch die Gewerkschaftsarbeit im Betrieb geprägt und hat dort eine steile Karriere hingelegt. Nach ihrer Ausbildung als Chemielaborantin – dabei geht es um die Kontrolle von Rohstoffen und von Fertigprodukten – wurde sie Jugendvertreterin und mit 26 Jahren bereits Betriebsratsvorsitzende im Werk Biessenhofen. Das war im Jahr 2000. Sechs Jahre später wird sie Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats Nestlé Deutschland, was damals die gewerkschaftliche Vertretung von insgesamt rund 10 000 Mitarbeitern bedeutete. Seit 2004 sitzt die Allgäuerin auch im Aufsichtsrat des Unternehmens und war lange Zeit im Vorstand der Gewerkschaft NahrungGenuss-Gaststätten (NGG). Heute ist sie »nur« noch Vorsitzende der NGGRegion Allgäu. Vor drei Jahren trat die bis dahin parteilose Susanne Ferschl der Linkspartei bei und bewarb sich schließlich für einen bayerischen Listenplatz zur anstehenden Bundestagswahl.
Die LINKE in Bayern hat, was Direktmandate angeht, so wenig Chancen wie die anderen Parteien neben der CSU, die 2013 in allen Wahlkreisen abräumte. Bundestagsmandate gibt es also für die Linkspartei im Freistaat nur über die Zweitstimmen, respektive die Landesliste. Auf der zogen 2013 der Franke Klaus Ernst, die Münchnerin Nicole Gohlke, der Nürnberger Harald Weinberg und die Ingolstädterin Eva BullingSchröter in den Bundestag ein. Da letztere 2017 nicht mehr antritt, war einer der relativ sicheren ersten vier Listenplätze vakant und bei der Kandidatenaufstellung konnte sich Susanne Ferschl gegen eine Mitbewerberin durchsetzen.
Ferschl tauscht ihren Einfluss als Aufsichtsratsmitglied und Betriebsratsvorsitzende gegen einen Platz im Parlament – aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Oppositionsbank. Aus ihrer Sicht ist das nicht automatisch ein Verlust an Gestaltungsmacht, vielmehr hat sie Grenzen auch als Betriebsrätin erlebt. »Manche Dinge sind vor Ort nicht regelbar«, erklärt sie. Zum Beispiel bei der Befristung von Arbeitsverträgen oder Leiharbeit. Zwar kann der Betriebsrat hier mitreden, aber nur im Rahmen der eingeschränkten gesetzlichen Möglichkeiten. »Und die lassen sich nicht im Betrieb, sondern nur über die Politik verändern«, so ihre Überzeugung.
Die Rahmenbedingungen ändern, darin sieht sie den Sinn des politischen Engagements im Bundestag. Dazu gehören auch jene Bedingungen, wie sie die SPD unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 und insbesondere mit Hartz IV geschaffen hat. »Das hat mich damals sehr ge- prägt«, erinnert sich Susanne Ferschl an das Jahr 2005, als die neuen Sozialgesetze in Kraft traten. Und sie war damals nicht glücklich mit der Reaktion der Gewerkschaften. Sie hätte sich einen größeren und schärferen Protest gewünscht.
Und wie ist das mit den vielen Ämtern, bringt die Mitbestimmung nicht die Gefahr mit sich, dass Arbeitnehmervertreter korrumpiert werden? Die Verurteilung des ehemaligen VWBetriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert 2008 wegen Untreue steht dafür als Beispiel. »Natürlich hat man als Mitglied des Aufsichtsrats eine gewisse Macht im Unternehmen«, sagt Ferschl, »aber ich bin mir bewusst, wo ich stehe.« Bei Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite gehe es halt auch darum, dass man sich von dem ganzen Spektakel – noblen Hotels oder Geschäftsessen – nicht beeindrucken lasse. Und ja, sagt sie, der Begriff der Arbeiterklasse habe eine Bedeutung für sie. Wenn sie zum Beispiel mit den Kollegen im Betrieb über die Renten redet, die viel zu niedrig seien.
Für sie ist klar, dass sie mit einem Bundestagsmandat einige ihrer Ämter abgeben wird. Im Betriebsrat des Werks Biessenhofen will sie aber bleiben. Wie man das zeitlich managen kann, müsse man sehen. Und klar ist für sie auch, dass es – anders als vor einigen Jahren bei Audi und bayerischen Landtagsabgeordneten – dann auch keine pauschalen Bezüge mehr geben könne. »Gewerkschafter müssen hier sauberer als andere sein«, sagt sie.
Wenige Tage vor der Bundestagswahl stehen noch diverse Termine in ihrem Kreisverband Kaufbeuren-Ostallgäu auf dem Programm: Infostände, Podiumsdiskussionen, Verteilaktionen vor Betrieben. Gemeinsam mit anderen Gewerkschaftssekretären, Betriebs- und Personalräten hat sie einen Aufruf gestartet, der Gewerkschafter auffordert, »links zu wählen«. Fast 900 Menschen haben sich bislang angeschlossen.
Ihr Ehemann unterstützt sie in ihrem politischen Engagement, der Lebensmittelpunkt soll im Allgäu bleiben. Und was macht Susanne Ferschl, wenn sie keine Politik oder Gewerkschaftsarbeit macht? »Wir sind gerne mit Zelt und Rucksack wandern«, sagt sie, »das erdet einen schön und entschleunigt.«
Gerhard Schröder und die Agenda 2010 haben sie »sehr geprägt«. Susanne Ferschl war damals nicht glücklich mit der Reaktion der Gewerkschaften. Sie hätte sich einen größeren und schärferen Protest gewünscht.