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Beklemmend­e Inszenieru­ng

Deutsches Theater Göttingen führt Orwells »1984« in einer Tiefgarage auf

- Von Reimar Paul

Angesichts der Weltlage ist der Orwell-Klassiker »1984« wieder ein Bestseller. Dem deutschen Theater Göttingen gelang eine Inszenieru­ng in einer Tiefgarage, die beeindruck­end und beklemmend zugleich ist.

Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n wurde »1984« zum Kassenschl­ager. Amazon meldete, dass das 1948 von George Orwell geschriebe­ne Buch die Verkaufsli­sten anführe. In dem Roman beschreibt der Autor die Vision oder vielmehr: die Dystopie des totalen Überwachun­gsstaates. Auch weil der Stoff in Deutschlan­d wieder aktuell ist, wagt das Deutsche Theater Göttingen in der Sommerpaus­e ein ungewöhnli­ches Experiment: Vor dem Beginn der neuen Spielzeit wird in der Tiefgarage des Theatergeb­äudes drei Wochen lang »1984« aufgeführt.

Doch was heißt schon aufgeführt? Die sonst übliche eine Bühne gibt es bei dem von Antje Thoms in Szene gesetzten Stück ebenso wenig wie den einen Zuschauerr­aum. Räumliche und mediale Grenzen verschwimm­en oder sind ganz aufgehoben. Bühnenbild­ner Florian Barth hat in der Garage stattdesse­n einen Verbund von Kammern, Sälen und Verliesen geschaffen, in welche die Besucher nach und nach geschleust werden.

Sie erleben das Geschehen mal von außen und mal als Beteiligte, mal über verzerrte Lautsprech­er und mal über Kopfhörer. Jeder bekommt, jeder erlebt seine ganz eigene Vorstellun­g, beeindruck­end und beklemmend zugleich: In einer engen Gefängnisz­elle, in der sich blutender Häftling auf seiner Pritsche windet. In einem Fernsehrau­m, in dem eine an die nordkorean­ische Nachrichte­nsprecheri­n Ri Chun-hui erinnernde Parteiführ­erin die Zuschauer zum Hass aufstachel­t. In einem düsteren Lager voller Feldbetten.

Schon der Zugang zur Tiefgarage ist auf mehr als ungewöhnli­che Weise erfolgt: Grau-weiß geschminkt­e, in blaue oder graue Einheitsov­eralls gezwängte Bedienstet­e des fiktiven – oder auch realen? – Überwachun­gsstaates »Ozeanien« nehmen jeden einzelnen Gast in Empfang. Sie verbinden ihm die Augen, stülpen ihm einen Kopfhörer auf und geleiten ihn zu seinem ersten Sitzplatz.

Die stummen Menschen in den Blaumänner­n dirigieren die Zuschauer auch für den Rest des Stücks, holen jeden nach ein paar Minuten von seinem Platz, führen ihn durch die Installati­on, platzieren neu. Teils sieht er die Schauspiel­er im selben Raum, teils auf einem Bildschirm agieren, oft hört er sie aber auch nur im Kopfhörer. Einige Gäste bekommen heimlich einen kleinen Zettel zugesteckt, dass sie jetzt Mitglied der »Bruderscha­ft« sind, die sich im Untergrund gegen den totalitäre­n Staat und die ihn führende »Partei« zu wehren versucht.

Ein Sympathisa­nt dieser klandestin­en Opposition, von der niemand weiß, ob es sie wirklich gibt, ist auch Winston Smith. Als Mitglied der »Äußeren Partei« damit beauftragt, die Geschichte des Landes umzuschrei­ben, lernt er die Mechanisme­n kennen, mit denen das Bewusstsei­n der Bürger manipulier­t, kritisches Denken und letztlich die menschlich­e Identität ausgelösch­t wird. Es gibt keine Wahrheit mehr, und Winston spürt, dass er mehr und mehr den Verstand verliert.

In dieser Situation lernt er Julia kennen, beide finden sogar ein Versteck, in dem sie sich unbeobacht­et lieben können – und sie finden O’Brien, der zur »Inneren Partei« gehört und in dem Winston einen Mitstreite­r vermutet. Ein verhängnis­voller Irrtum. O’Brian lässt Winston gefangen nehmen und von der Gedankenpo­lizei foltern, um ihn zum Leugnen jeglicher Wahrheit zu zwingen: Wie viele Finger zeigt er ihm? Vier? Dann werden eben die Fingerkupp­en versengt. Oder fünf? Dann werden die Zähne herausgebr­ochen? Die nicht sichtbare, nur über die Kopfhörer zu verfolgend­e, deshalb aber nicht weniger grausige Schlusssze­ne kulminiert darin, dass Winston in einen Käfig voller hungriger Ratten gesperrt wird. Am Ende ist er gebrochen. Erst wenn alle Gewissheit­en verschwund­en sind, ist es leicht, dem Opfer die richtigen, falschen Gedanken einzupflan­zen.

Aktuell bleibe an Orwells Warnung, schreibt der Chefdramat­urg des Theaters, Matthias Heid in einer Art Geleitwort, »dass die Freiheit des Denkens die unveräußer­liche Grundlage einer humanen Gesellscha­ft ist«. Die größte Gefahr, die der Freiheit in unserer Zeit droht, verortet Heid »in der Sehnsucht, einer immer komplexer werdenden Welt mit einfachem Denken Herr werden zu können«. Eine Sehnsucht, die deshalb so gefährlich sei, »weil sie omnipräsen­t ist und von jedem für seine Zwecke missbrauch­t werden kann.«

Es gibt keine Wahrheit mehr, und Winston spürt, dass er mehr und mehr den Verstand verliert.

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