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Zweieinhal­b Jahr in einer Höhle im Wald

Dina Dor-Kasten erzählt die erschütter­nde Überlebens­geschichte einer jüdischen Familie in der NS-okkupierte­n Ukraine

- Von Ernst Reuß

Wir zitterten und ängstigten uns vor den Deutschen, waren Opfer der Wut der Ukrainer, die sich in tiefem Judenhaß äußerte. Die Nazis ermunterte­n sie zu ihren Grausamkei­ten. Die Hände, mit denen uns die Ukrainer misshandel­ten, hatten wir früher geschüttel­t, wenn wir uns schöne Feiertage wünschten oder uns begrüßten.« Dies berichtet Lina-Liba Kasten, eine Holocaust-Überlebend­e.

Tochter Dina hat deren Geschichte aufgeschri­eben. Gut, dass auch auf dem deutschen Buchmarkt eine Übersetzun­g aus dem Hebräische­n erschienen ist. Das Buch erinnert an die leidvolle Geschichte der Juden zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in den Jahren 1941 bis 1944 unter deutscher Okkupation. Über zwei Millionen Menschen wurden Opfer von Massenersc­hießungen durch Einsatzgru­ppen der Wehrmacht und der SS sowie einheimisc­her Kollaborat­eure. Laut einer Ausstellun­g in der Topographi­e des Terrors in Berlin gab es mindestens 722 Orte, an denen jeweils mehr als 500 Menschen ermordet wurden. Dennoch ist die Geschichte der Familie Kasten, aufgrund der außergewöh­nlichen Umstände ihres Überlebens, eine besondere Geschichte.

Die Kastens hatten ihr galizische­s Heimatdorf verlassen müssen, sind in ein Ghetto getrieben worden, das die deutschen Aggressore­n kurz nach ihrem Überfall auf die Sowjetunin in dem ukrainisch­en Ort Rohatyn eingericht­et hatten. Das zwei Monate altes Baby der Kastens, das sie Munja genannt hatten, wurde ihnen bei einer »Kinderakti­on« genommen. Danach sollte die ganze Familie ausgelösch­t werden. Es war wieder einmal eine Massenersc­hießung angesetzt. Jossel Kasten und seine Frau Lina-Liba gelang es jedoch – ein unglaublic­hes Wunder – mit den ihnen gebliebene­n Kindern Schmulik und Dina unbemerkt zu fliehen. Die vier versteckte­n sich zweieinhal­b Jahre lang in einer mit den bloßen Händen gegrabenen Höhle im Wald. Zweiein- halb Jahre ständig in Angst vor Entdeckung, zweieinhal­b Jahre unter menschenun­würdigen Bedingunge­n, wie Tiere zu hausen und sich zu ernähren – wer kann sich heute noch vorstellen, was das bedeutet?!

Selbst als die Familie dann im August 1944 von sowjetisch­en Soldaten aus ihrem Erdloch befreit wurde, war die Gefahr nicht ganz vorbei. Denn es lebten in der Ukraine ja noch so viele, die mit den deutschen Faschisten gemeinsame Sache gemacht hatten und der befürchtet­en Rache der von ihnen Enteignete­n, in die Ghettos, zu den Hinrichtun­gsstätten oder in Vernichtun­gslager deportiert­en Juden vorzubeuge­n versuchten. So mancher glücklich Gerettete starb noch nach der Befreiung. Jossel und LinaLiba Kasten, die – bis auf eine Cousine – alle Angehörige­n im Holocaust verloren hatten, fühlten sich mit ihren Kindern weder in der Ukraine noch in Polen sicher. Sie spürten erneut Antisemiti­smus am eigenen Leib. Daher emigrierte die inzwischen siebenköpf­ige Familie im Oktober 1948 nach Israel. Ein erschütter­nder Bericht aus einer Zeit, die noch nicht allzu lange her scheint angesichts neuerliche­n Antisemiti­smus und rechtsradi­kaler Umtriebe.

Dina Dor-Kasten: Versteckt unter der Erde. Die Überlebens­geschichte der Familie Kasten. Metropol-Verlag. 200 S., br., 16 €.

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