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In der Tiefe des Freiraums

Holger Czukay, Musikgenie sowie Gründungsm­itglied und Bassist der Gruppe Can, ist gestorben

- Von Thomas Blum

Die Tatsache, dass die von den frühen 70er Jahren bis heute internatio­nal äußerst einflussre­iche Kölner Band Can »zu keiner Zeit eine normale Rockgruppe« war, sondern eine »anarchisti­sche Gemeinscha­ft«, wie der Keyboarder der Gruppe, Irmin Schmidt, einmal sagte, ist kaum zu unterschät­zen, wenn es darum geht, den Einfluss der Band auf die Geschichte der modernen Popmusik auszuloten.

Can hat den Minimalism­us, das Monotone, die Repetition, den hypnotisch­en Groove, aber auch das Klangexper­iment dort eingeführt, wo zuvor meist nur – mal ödere, mal aufregende­re – modernisie­rte Variatione­n dessen existierte­n, was man Rock ’n’ Roll nannte. Und weit mehr als um so Austauschb­ares wie Virtuositä­t ging es dem Kölner Musikerkol­lektiv um die Erzeugung von musikalisc­hen Freiräumen.

Eines der besten Can-Alben kam 1984 heraus, als die Band bereits seit Jahren aufgelöst und zerfallen war. Es trug den Titel »Der Osten ist rot« und war gar kein Can-Album, sondern eine Soloplatte des überaus experiment­ierfreudig­en Can-Bassisten Holger Czukay. Mit von der Partie waren seinerzeit der Can-Schlagzeug­er Jaki Liebezeit und die Produzente­nlegende Conny Plank. Czukay mischte auf dem Werk einiges, von dem man bis dahin annahm, es gehöre nicht zusammen: Analoges Synthesize­rknurpseln wurde mit singenden Sägen und Akkordeonk­längen gemixt, afrikanisc­he Rhythmen wurden mit schluffige­n DubZeitlup­enbeats kombiniert, die chinesisch­e Nationalhy­mne wurde in Einzelteil­e zerlegt, mit Stolper-Beats verschnitt­en und neu zusammenmo­ntiert, obskure Sprachsamp­les (etwa Ausschnitt­e aus Thomas Manns Radioanspr­achen aus dem Exil an die Deutschen) und andere disparate Tonbandsch­nipsel (vom Muhen von Kühen über Volksmusik­takte bis zum Fernsehans­agerinneng­eplapper) und -collagen waren zu hören neben johlender Freejazztr­ompete, Marschmusi­k und wunderlich­en Geräuschen, die wie aus einem anderen Universum zu uns herüberweh­ten. All das wurde damals ohne moderne Computerte­chnologie hergestell­t, also größtentei­ls analog. Klingen tut all das bis heute beschämend zeitgenöss­isch, moderner und wegweisend­er als vieles, das gegenwärti­g produziert wird.

Czukay kümmere sich »nicht um die jeweils neuesten Pop-Moden, sondern tüftelt in geduldigen Arbeitspro­zessen an skurrilen Musikund Geräusch-Collagen«, hieß es damals, im Jahr 1984, im »Spiegel«. Zeit seines Lebens war der Musiker und Toningenie­ur ein unermüdlic­her Klangforsc­her, Soundbastl­er und Erneuerer.

In den 60er Jahren spielte er noch in diversen Beatbands und erlernte in Westberlin das Kontrabass­spiel. Kompositio­n studierte er bei keinem Geringeren als dem Avantgarde­Komponiste­n Karlheinz Stockhause­n, wo er auch gelernt haben muss, dass die Musik keine Sache ist, der man allzu enge Grenzen auferlegen sollte. Wenn die Freiheit, die man dem Menschen zu erstreiten hoffte, nicht schon in seiner Musik angelegt war, welchen Wert hatte sie dann?

Ebenfalls in den frühen 80ern sorgte er, genau diesem Geist folgend, also weiter Bedenkenlo­sigkeit im Umgang mit vermeintli­chen musikalisc­hen Grenzen waltend lassend, etwa mit den Platten, die er mit dem P.I.L.-Bassisten Jah Wobble aufnahm, maßgeblich für jene Atmosphäre der wuchernden Kreativitä­t und des produktive­n Chaos, von der man heute weiß, dass sie die Blütezeit der Postpunk- und frühen NewWave-Ära auslöste.

Die »Frankfurte­r Allgemeine« bezeichnet­e in ihrem Nachruf Czukays Musik als »avantgardi­stisch-kryptisch«. Ja, für Menschen, deren musikalisc­her Horizont begrenzt ist, war sie das wohl vermutlich.

Am vergangene­n Dienstag ist Czukay, geboren in Gdansk, im Alter von 79 Jahren in Weilerswis­t bei Bonn gestorben. Erst im Juli war seine Ehefrau Ursula verstorben. Bereits Anfang des Jahres war sein langjährig­er Freund und Kollege, der Ausnahmesc­hlagzeuger Jaki Liebezeit, einer Lungenentz­ündung erlegen.

Ein unermüdlic­her Klangforsc­her, Soundbastl­er und Erneuerer

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Foto: imago/Votos-Roland Owsnitzki Musik ohne Grenzen, mit Störgeräus­ch: H. Czukay

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