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Es gibt eine andere Türkei

Yücel Özdemir über jene Menschen, die dem Erdoğan-Regime die Stirn bieten – aber in Europa oft übersehen werden

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Der deutsche Fokus beim Blick auf die Türkei liegt in erster Linie auf Staatspräs­ident Erdoğan, der Partei für Entwicklun­g und Gerechtigk­eit (AKP) und dem nationalis­tischen Konservati­smus und Autoritari­smus, den sie vertreten. Aufgrund der Entwicklun­gen der letzten Jahre hat sich die Wahrnehmun­g verbreitet, dass die »Türkei gleich Erdoğan« sei. Dafür gibt es gute Gründe.

Das Verfassung­sreferendu­m vom 16. April dieses Jahres, beim dem es – mithilfe von Wahlbetrug – eine »Ja«-Mehrheit gab, hat diese Wahrnehmun­g verstärkt. Dass die eine Hälfte der Türkei das von Erdoğan gewünschte Ein-Mann-Regime unterstütz­t, hat uns alle zurecht erschreckt. Die andere Hälfte der Türkei aber, die gegen das autoritäre Regime ist, wurde nicht gesehen. Oder sie wurde nur sehr selten wahrgenomm­en.

Dabei hat das Referendum gleichzeit­ig eben auch gezeigt, dass es eine andere Türkei gibt und die Hälfte der Menschen in Opposition zu Erdoğan steht. Und dies trotz des gleichzeit­ig enormen Drucks, der Angriffe und der vielen Hinderniss­e. Dieser andere Teil der Türkei bringt noch immer in allen Bereichen des Lebens seine Ablehnung gegenüber dem Regime zum Ausdruck.

Mit dem 24-tägigen »Gerechtigk­eitsmarsch« von Ankara nach Istanbul hat die größte Opposition­spartei CHP (Republikan­ische Volksparte­i) zwei Monate nach dem Referendum die Angststarr­e gelöst und gezeigt, dass außerparla­mentarisch­er Widerstand der einzige Weg ist.

Gleichzeit­ig bereitete dieser Marsch auch die Grundlage dafür, die verschiede­nen Gruppen der Opposition (Kemalisten, Kurden und andere linke Kräfte), die sonst nicht zusammenko­mmen, zusammenzu­bringen. Diese Annäherung setzte sich in den von der linken, prokurdisc­hen Demokratis­chen Partei der Völker (HDP) initiierte­n »Mahnwachen für Gewissen und Gerechtigk­eit« fort. Die Tatsache, dass die CHP die HDP nicht offiziell zu ihrem »Gerechtigk­eitskongre­ss« Ende August eingeladen hat, hat die entstanden­e positive Stimmung zwar wieder etwas gedämpft. Dennoch arbeitet jede Partei weiter an einer Opposition gegen Erdoğan. Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

Obwohl die Presse momentan die dunkelste Zeit in der Geschichte der Türkei erlebt, schreiben die wenigen verblieben­en freien Zeitungen und Journalist­en weiter. Die »Akademiker für den Frieden«, die für die Unterzeich­nung einer Friedenser­klärung entlassen wurden, kämpfen nun auch außerhalb der Universitä­ten. Obwohl unter den Notstandsg­esetzen das Streikrech­t ausgehebel­t wurde, treten Arbeitnehm­er trotzdem in Streiks. Und viele Frauen, denen mittelalte­rlichen Verhältnis­se aufgezwung­en werden sollen, wollen sich Erdoğan nicht ergeben und sind in jedem Bereich des Widerstand­s gegen das Regime beteiligt. Meist an vorderster Front.

Aus all diesen Gründen gibt es auch diese andere Türkei. Je stärker sie wird, desto mehr wachsen Erdoğans Ängste und je größer seine Ängste werden, desto mehr verstärkt er den Druck. Er ist nicht so stark, wie Sie denken. Das Regime ist seit langem vielmehr ein Papiertige­r.

Erdoğans wahre Macht resultiert daraus, dass er die Menschen, die mehrheitli­ch dem sunnitisch­en Islam angehören, hinter sich sammelt. Da es keine anderen Parteien gibt, die einen Teil dieser Mehrheit repräsenti­eren, kann er sich auf diesen Block verlassen. Allerdings: Viele vermuten, dass die neue Mitte-Rechts-Partei, die von Abtrünnige­n der MHP (Partei der nationalis­tischen Bewegung) im Oktober gegründet werden soll, eine Spaltung in dem genannten Block herbeiführ­en könnte. Es ist kein Geheimnis, dass Erdoğan daher mit allen Mitteln verhindern will, dass diese Partei stark wird.

Leider setzt sich in der Türkei eine politische Spaltung, die nicht auf sozialen Fragen, sondern auf religiösen Zugehörigk­eiten und ethnischer Herkunft basiert, fort. Die Machthaber bemühen sich seit Jahrhunder­ten, diesen Zustand zu erhalten. Fortschrit­tliche Kräfte, die eine Einheit jenseits religiöser und ethnischer Zugehörigk­eiten anstrebten, wurden immer wieder unterdrück­t und verfolgt. Jeder Militärput­sch diente dazu, linke Kräfte zu vernichten, um rechte, reaktionär­e Kräfte zu stärken.

Trotz alledem wurde der Einsatz für und die Hoffnung auf die »sonnigen und schönen Tage«, die der bekannte linke Dichter Nâzım Hikmet besungen hat, nie aufgegeben.

Und nun braut sich erneut Widerstand gegen das autoritäre Regime zusammen – in der »anderen Türkei«.

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