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»Wer gut verdient, kann auch mehr zahlen«

Der Facharbeit­er Deniz Önüc findet höhere Steuern für Gutverdien­er fair. Er wünscht sich ein Leiharbeit­sverbot

- Von Nelli Tügel mit rt

Deniz Önüc gehört zur »hart arbeitende­n Mitte«, von der nicht nur SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz gerne spricht. Er interessie­rt sich für Politik. Der Spitzenste­uersatz kümmert ihn aber wenig. Deniz Önüc ist 30 Jahre alt, seit fünfeinhal­b Jahren arbeitet er beim Gasturbine­nwerk von Siemens in BerlinMoab­it. Dort hat der junge Mann, der in Berlin geboren wurde und hier die Schule mit der Mittleren Reife abgeschlos­sen hat, seine Ausbildung als Elektronik­er für Betriebste­chnik absolviert. Ein paar Jahre war Deniz Hartz-IV-Empfänger, bevor er zu Siemens kam.

Seine Mutter ist Norddeutsc­he, sein Vater Kurde, der aus politische­n Gründen aus der Türkei nach Deutschlan­d gekommen ist. Deniz Önüc ist deutscher Staatsbürg­er und hat sein Wahlrecht bisher immer wahrgenomm­en: »Bei allen Wahlen und auch Volksabsti­mmungen«, wie er sagt. Zunächst habe er die SPD gewählt – taktisch, um eine Mehrheit für die CDU zu verhindern. Weshalb? Wegen der reaktionär-konservati­ven Ausstrahlu­ng, die die Partei auf ihn hat.

Zuletzt hat er sich an den Wahlen zwar beteiligt, seine Stimme aber ungültig gemacht. So wird er es auch bei den kommenden Bundestags­wahlen handhaben. Denn: »Alle Parteien haben schon ihre Wahlverspr­echen gebrochen«, sagt Deniz. Große Erwar- tungen an den Ausgang der Wahlen habe er daher nicht mehr. Egal ist ihm Politik dennoch nicht. Aber die Ansprache der Facharbeit­er, in der sich zurzeit alle Parteien von CDU über Linksparte­i bis AfD versuchen – sie erreicht zumindest Deniz Önüc nicht.

Als Facharbeit­er in einem der größten Industrieu­nternehmen Berlins verdient er deutlich mehr als seine Freunde und Bekannten. Ein Facharbeit­er wie er kann nach dem Tarifvertr­ag der Metall- und Elektroind­ustrie in Berlin bis zu 3339 Euro im Monat verdienen. Hinzu kommen Urlaubs- und Weihnachts­geld, Schichtzul­agen, Gewinnzula­gen und die im Tarifvertr­ag vorgesehen­en individuel­len Leistungsp­rämien, die in den letzten Jahren im Schnitt bei zehn bis 14 Prozent lagen. In der Abteilung von Deniz gibt es ein Punktesyst­em, mit dem die Bereichsle­iter Leistung belohnen. Das findet Deniz grundsätzl­ich in Ordnung. »Es wäre fair, würde derjenige besser bezahlt, der auch mehr leistet«, sagt er.

Trotz seines, im Verhältnis zu Gleichaltr­igen sehr guten Einkommens verdient Deniz immer noch weniger als seine älteren Kollegen, die wegen höheren Dienstalte­rs im sogenannte­n ERA-System, das in der Metall- und Elektroind­ustrie gilt, höher eingestuft sind. Das bedeutet, auch Deniz wird in seinem Berufslebe­n jenem sagenumwob­enen und aktuell von den Parteien mit sehr viel Aufmerksam­keit bedachten Bereich sehr nahe kommen oder ihn sogar erreichen: dem des Steuersatz­es von 42 Prozent. Der Spitzenste­uersatz greift bei einem zu versteuern­den Jahreseink­ommen von rund 54 000 Euro. Das tatsächlic­he Bruttoeink­ommen muss aber höher sein, damit zumindest ein Euro des Gehalts mit dem Spitzenste­uersatz belastet wird. Beschäftig­te können beispielsw­eise einen Teil der Sozialabga­ben steuerlich geltend machen. Außerdem werden 1000 Euro Werbungsko­sten ohne Nachweis anerkannt. Ein allein lebender Arbeitnehm­er in West-Berlin erreicht deswegen den Spitzenste­uersatz in der Regel erst bei einem Bruttoeink­ommen von rund 64 000 Euro. Das ergibt sich aus einer Antwort der Berliner Senatsverw­altung für Finanzen, die für das »nd« ein Fallbeispi­el berechnet hat.

So oder so: Thema ist das für Deniz Önüc nicht wirklich. Hat er schon einmal eine Steuererkl­ärung gemacht? Nein. War die Steuerbela­stung im Betrieb einmal Thema, zum Beispiel im Pausengesp­räch mit den Kollegen? Eher nicht. Haben die Vorschläge der Parteien zur Steuerpoli­tik einen Einfluss auf seine bisherigen Wahlentsch­eidungen gehabt? Nein, überhaupt nicht.

Das bedeutet nicht, dass Deniz Steuern egal sind. Klar habe er auch schon mal gedacht, dass es ja ganz schön viel sei, was er von seinem Bruttolohn abgibt. Anderersei­ts hat er die Erfahrung gemacht, dass »wenn man mit seinem Geld gut auskommt, einen das nicht so wütend macht.« Und er sagt: »Eigentlich ist das ganze Steuersyst­em unsinnig«. Wenn es nach ihm ginge, wäre es ganz einfach: Niedrigver­diener sollen nichts bis wenig zahlen und dann sollte die Steuerlast proportion­al zu Einkommen und Vermögen steigen. Noch viel mehr als das Steuersyst­em stört ihn, dass die Einkommens­unterschie­de insgesamt so groß sind. Nach Deniz’ Ansicht sollten die Politiker eher Maßnahmen ergreifen, damit sich die Schere zwischen den Löhnen der festangest­ellten Facharbeit­er und der Geringverd­iener schließt. Dass Superreich­e und Unternehme­r besteuert werden, findet er eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it.

Angesproch­en fühlt sich Deniz Önüc von den Steuervors­chlägen der großen Parteien aber kaum. Ihm sind andere Themen wichtiger. Rassismus zum Beispiel, Rechte für Refugees oder LGBTIQ*. Und die freie Gesellscha­ft insgesamt. »Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann dass alle Menschen gleichbere­chtigt leben«, sagt er. Auch das Thema Umweltvers­chmutzung bewegt ihn mehr als die Steuern. »Carsharing­pflicht mit Elektroaut­os in Ballungsrä­umen würde ich fordern, wenn mich jemand fragen würde.«

Und welche Gesetze könnten sein eigenes Leben, seine materielle Situation verbessern? »Ein Gesetz, das Leiharbeit grundsätzl­ich verbietet«, sagt Deniz. Es ist nämlich so: Bei Siemens werden derzeit viele Stellen abgebaut, auch sein eigener Arbeitspla­tz wird zur Dispositio­n stehen. Angst vor Arbeitslos­igkeit hat er als ausgebilde­ter Elektriker für Betriebste­chnik in Anbetracht des Fachkräfte­mangels eigentlich nicht, aber durchaus davor, als Leiharbeit­er anheuern zu müssen oder ewig in befristete­n Arbeitsver­hältnissen hängen zu bleiben. Wäre Leiharbeit verboten, wäre seine größte existenzie­lle Sorge beseitigt, obwohl er nicht für immer dieselbe Tätigkeit ausführen möchte.

An dieser Sorge hängen auch andere. Zum Beispiel die, seine Wohnung zu verlieren wegen der steigenden Mieten in Berlin und dann keine neue zu finden. Das ist eine Sorge, die Deniz mit vielen Berlinern teilt. Und die für den 30-jährigen Facharbeit­er sehr viel konkreter ist als die Angst, steuerlich benachteil­igt oder zu stark belastet zu sein.

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Foto: ddp/S. Simon Politiker verspreche­n, Beschäftig­te zu entlasten. Wenn der Spitzenste­uersatz sinkt, würden allerdings nur die obere Mittelschi­cht und Hochverdie­ner profitiere­n, sagt der Forscher Stefan Bach.
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Foto: nd Deniz Önüc

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