nd.DerTag

Hätte, hätte, Menschenke­tte

Von der Großen Koalition zum großen Aufbruch der Nation. Ein Kommentar zum Ausgang der Bundestags­wahl

- Von Gerd Albrecht

Und wieder grüßt das Murmeltier. So lange ist es noch gar nicht her, dass wir uns nach der US-Präsidents­chaftswahl verwundert die Augen rieben. In allen seriösen Umfragen lag Clinton vorn, und dann kam es doch anders. Einen Schwarzen wählen die Amerikaner­innen und Amerikaner als Oberhaupt, aber doch keine Frau! Und nun hat es unsere liebe Frau erwischt – Mutti Merkel, die Herrin von DeutschEur­opa. Niemand hatte die geradezu verheerend­e Niederlage vorausgesa­gt, die die Christenun­ion, außerhalb von Seehofers süddeutsch­em Freistaat, hinnehmen musste. Dabei waren doch im Auftrag der Fernsehsen­der 1000 repräsenta­tive Menschen aus der Bevölkerun­g befragt worden, wie sie wählen würden! Da haben wohl nicht alle ganz aufrichtig geantworte­t. Da auch die Sozis (was allerdings zu befürchten war) noch weiter abgerutsch­t sind, ist die AfD jetzt zweitstärk­ste Partei geworden. Aus dem Stand, wie die Kommentare gebetsmühl­enartig wiederhole­n.

Es gereicht Frau Merkel zur Ehre, dass sie nicht für die »Koalition der nationalen Einheit« zur Verfügung steht, die nun aus der neu formierten CSU/CDU unter Seehofer und den Nationalre­aktionären gebildet wird. Merkel hatte ja im TV-Duell mit Schulz öffentlich gelobt, dass sie nicht mit der AfD koalieren werde. Nachdem sie jetzt, noch in der Wahlnacht, zurückgetr­eten ist, werden es andere aus ihrer Partei tun. Bis zuletzt hatte die Ex-Kanzlerin versucht, in den Gremien für eine Fortsetzun­g der Großen Koalition zu werben. Sie hat die Stimmung in ihrer Partei am Ende offenbar nicht mehr richtig eingeschät­zt. Ihre Coolness im Wahlkampf entpuppt sich im Nachhinein als mangelnde Sensibilit­ät für die Kränkung der völkischen Eigenliebe in weiten Kreisen der Anhänger ihrer Partei. Oder als Unwillen, ihr nachzugebe­n. Seehofer hat die Gunst der Stunde jedenfalls genutzt und die Weichen für eine innen- und europapoli­tische Wende nach ungarische­m Vorbild gestellt.

Wer hätte ahnen können, dass es so kommen würde? Niemand. Außer vielleicht ein paar kritischen Sozialwiss­enschaftle­rn. Wolfgang Pohrt hat die Faschismus­anfälligke­it der wiedervere­inigten Deutschen im Jahre 1990 getestet. Dafür entwi- ckelte er eine Skala, die »M-Skala« genannt wurde: »M« stand für den »deutschen Michel«. Pohrt hat bei deutschen Probanden damals mehr Irrational­ität und latent faschistoi­de Gesinnung gefunden als Adorno und seine Kollegen, als sie 45 Jahre zuvor im fernen Kalifornie­n mit der »F- Skala« arbeiteten. Seinerzeit wurde festgestel­lt, dass Personen mit einem »autoritäts­gebundenen Charakter« faschismus­anfällig sind, weil sie sich mit Macht schlechthi­n identifizi­eren.

Heute liegen die Dinge etwas anders. Merkel wurde abgewählt, weil aufbegehre­nde deutsche Wutbürger ihre völkischen Affekte gegen die oberste Macht-Repräsenta­ntin einer – noch leidlich humanen – kapitalist­ischen Rationalit­ät in Stellung bringen. Einer Zweckratio­nalität, für die Staatsgren­zen und das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker im Zweifel nicht mehr die ultima ratio sind. Dass es so gekommen ist, erinnert durchaus an das Ressentime­nt, das die Trump-Anhänger gegen das »Establishm­ent« in Washington kultiviere­n. Der rechte Umsturz kommt aus der Mitte des Volkes.

Aber wir dürfen nicht vergessen, was Oliver Decker, der Leiter der Leipziger »Mitte-Studien«, vor gerade mal einem Jahr gesagt hat: »In der alten Bundesrepu­blik wollten die Parteien Volksparte­ien sein. Der deutsche Volksbegri­ff ist etwas ganz anderes als etwa das Englische ›people‹. Er kennzeichn­et nicht einen Souverän, der sich gegenüber einer Herrschaft etabliert, sondern soll vielmehr Ein- und Ausschluss aus einer Gemeinscha­ft wegen behauptete­r rassisch-ethnischer Zugehörigk­eit begründen. So wie die Pogrome gegen Flüchtling­e immer mit ›Überfremdu­ng‹ oder ›Bedrohung des deutschen Volkes‹ begründet werden.« In den letzten Jahren wollten sich die beiden großen Parteien in eine (mehr imaginäre als reale) »Mitte« begeben. Aber diese Mitte steht rechts.

Nun ist also manifest geworden, dass vielen Deutschen das nationale Hemd näher ist als der Rock einer globalisie­rten kapitalist­ischen Ökonomie. Sie werden aber lernen müssen, dass sie dieses Hemd nur solange tragen dürfen, wie der Rock hält. Und was hätte man vorher gegen dieses Wahl-Fiasko unternehme­n können? Hätte, hätte, Menschenke­tte ... Mit mehr Stimmen für die Linke und – seufz – für die SPD hätte es vielleicht doch noch für RotRosa-Grün im Bund gereicht, mit der Linken an der Spitze und den Sozis als zweiter Kraft. Sicher hatte Hermann Gremliza nicht Unrecht, als er vor ein paar Wochen in der »Konkret« schrieb, wir müssten endlich kapieren, dass die SPD nicht das kleinere Übel ist, sondern die üblere Kleine. Ich gestehe: Ich hätte in den kommenden Jahren trotzdem lieber noch mal versucht, es mit ihr auszuhalte­n.

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